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Beiheft WS 2004/2005 << Erlebte Geschichte – erlebte Geschichten

2. Erlebte Geschichte – erlebte Geschichten
2.1. Umbruchsituationen in Ungarn
2.2. Kriegs- und Nachkriegszeit in einem schwäbischen Dorf
2.3. Aus dem Leben eines Soldaten im II. Weltkrieg
2.4. Eine Erinnerung
2.5. Der Anfang der LPG-Zeit
2.6. Das Interview mit meinem Großvater
2.7. Menschenschicksal unter dem Kommunismus
2.8. Der Sozialismus in Ungarn und die Wende im Spiegel einer alltäglichen Lebensgeschichte
2.9. Kommentare zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Ungarn



2. Erlebte Geschichte – erlebte Geschichten

Von fast allen Seminarteilnehmern konnte ein selbständig oder in Partnerarbeit verfasster Text hier aufgenommen werden. Wenn eine Veröffentlichung ausdrücklich nicht erwünscht war, musste natürlich darauf Rücksicht genommen werden, da es sich teilweise doch um sehr persönliche Erzählungen handelte. Aus diesem Grund wird auch darauf verzichtet, den einzelnen Texten die jeweiligen Autoren zuzuordnen. Folgende Studierende der Universität Szeged nahmen am Seminar teil: Noémi Oleár, Piroska Molnár, Judit Mester, Kinga Mészáros, Hajnalka Forgács, Ildikó Farkas, Péter Farkas, Linda Tóth-Kovács, Ágnes Ferenczi, Helmut Bechtel, Péter Lovas, Tímea Tóth, Eszter Dávid, Tímea Töpfner.

Im Folgenden werden die Beiträge in einer lockeren chronologischen Reihenfolge präsentiert. Zwischen den einzelnen Texten ergeben sich natürlich häufig Überschneidungen und Parallelitäten aufgrund ähnlicher Lebensdaten der ausgewählten Interviewpartner. Dadurch verdichtet sich das Bild. Die Texte zeigen, dass ein bestimmtes historisches Ereignis von keinem der Interviewten in gleicher Weise erlebt wurde.


2.1. Umbruchsituationen in Ungarn

Die beiden Interviewerinnen, Hajnalka und Ildikó haben je eine Person aus ihrer Familie befragt: Hajnalkas Urgroßmutter Borbála Faludi, geb. Krebsz und Ildikós Großvater Sándor Farkas.
Die Urgroßmutter von Hajnalka kann aus ihrer lang zurückreichenden Erinnerung schöpfen, sie ist nämlich am 4. Juni 1909 geboren, während Ildikós Großvater am 1. Mai 1921 geboren wurde. Beide sind auf dem Lande aufgewachsen, sie in Zebegény (am Donauknie, etwa 60 km von Budapest entfernt), er in Gyoma (40 km von Békéscsaba entfernt). Sándor Farkas arbeitete später in Budapest und Békéscsaba als Vorsitzender einer Produktionsgenossenschaft. Seine Familie war ungarischer Abstammung. Hajnalkas Urgroßmutter verbrachte ihr ganzes Leben in dem Dorf und war im Haushalt tätig. Ihre Eltern waren schwäbischer Abstammung (ihre Mutter konnte nur schwäbisch sprechen).
Für beide gilt, dass sie aus einfachen Verhältnissen kommen. Der Vater von Sándor Farkas arbeitete als Tagelöhner, seine Frau als Näherin, beide wohnten in Gyoma. Ildikós Großvater hatte keine Geschwister. Die Urgroßmutter dagegen hatte neun Geschwister, von denen zwei in Russland starben. Einige der Geschwister waren Bauern, aber es gab auch einen Arzt und zwei Pfarrer darunter, was von einer großen Zielstrebigkeit zeugt, denn im Allgemeinen besuchte man in Zebegény nur die Grundschule oder man hatte gar keine Schulbildung. Die Urgroßmutter ging nur in die sechsjährige Grundschule und erhielt keine berufliche Ausbildung. Sie war neun, als sie begann, auf dem Feld zu arbeiten. Ildikós Großvater ergänzte die Grundschule mit einer dreijährigen Landwirtschaftsschule, wo er zum Gärtner ausgebildet wurde.
Beide Befragten heirateten relativ jung. Es ist interessant, dass die Urgroßmutter den Mann ihrer verstorbenen Schwester mit kirchlicher Erlaubnis heiratete. Ihr Mann war Soldat bei der Kriegsmarine in Pola, wo er auch die Ingenieurschule besuchte. Nach dem ersten Weltkrieg wurde er aus dem Militärdienst entlassen. Beide Ehepaare hatten je zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter. Familie Faludis Tochter Teréz ist 1925 geboren und der Sohn Károly 1928, der Sohn der Familie Farkas, Sándor, 1949 und die Tochter Matild 1950.
Hajnalkas Urgroßmutter war mit ihrer Familie nicht nur deshalb, weil ihre Erinnerungen so weit zurückreichen, stärker von den historischen Ereignissen betroffen, sondern auch deshalb, weil sie schwäbischer Abstammung ist. Dies wird besonders deutlich bei der Lebensgeschichte der Kinder der Familien. Für die nach dem zweiten Weltkrieg geborenenen Kinder der Familie Farkas sind eigentlich keine besonders dramatischen Ereignisse zu verzeichnen, obwohl sich in ihrer beruflichen Laufbahn der Systemwechsel widerspiegelt. Beide erhielten eine Berufsausbildung. Matild besuchte die Facharbeiterschule für Verkäufer, und sie arbeitete als Verkäuferin und später als Geschäftsfrau in Budapest. Sándor erwarb ein Ökonomiediplom und war erst drei Jahre lang beim Steueramt in Békéscsaba und später, 1976-1991, als Hauptbuchhalter bei der Produktionsgenossenschaft „Viharsarok“ tätig. Zwischen 1991 und 1996 war er dann Unternehmer, seit 1996 arbeitet er beim Ungarischen Steueramt in Budapest.
Die Kinder der Urgroßmutter Hajnalkas wurden wegen ihrer deutschen Abstammung während des zweiten Weltkrieges nach Russland verschleppt, die Tochter am 5. Januar und der Sohn am 6. Januar 1942. Die Tochter kehrte zu Weihnachten 1945 wieder zurück, von dem damals 16jährigen Sohn Károly erfuhr die Familie nur, dass er 1945 verhungert sei. Die Tochter war später, nachdem sie eine entsprechende Berufsausbildung erhalten hatte, im Rathaus von Zebegény als Verwaltungsangestellte bis zu ihrer Pension tätig.

Der Vertrag von Trianon3 berührte keine der Familien direkt, aber Frau Faludi und Herr Farkas verurteilen diese Ereignisse, denn sie brachten die Verarmung der Bevölkerung und die Beschränkung der Arbeitsmöglichkeiten mit sich. Beide Befragten sind der Meinung, dass es Ungarn in und nach den Weltkriegen relativ schlecht ergangen sei.
Hajnalkas Urgroßmutter erinnert sich noch an die Wirtschaftskrise in den 30er-Jahren. Die Aktien, die die Familie besaß, verloren ihren Wert, und es konnte fast nichts dafür gekauft werden. Die Urgroßmutter nahm ihre Mutter zu sich, um sie zu unterstützen, aber es war fast unmöglich, das Überleben zu sichern. Ihr Mann arbeitete als Schlosser bei der Ungarischen Staatseisenbahn und verdiente sehr wenig. Die Familie versuchte, sich mit Hilfe der Landwirtschaft über Wasser zu halten. Sie besaßen zum Beispiel drei Kühe. Auch Ildikós Großvater erinnert sich, dass seine Familie damals sehr arm war. Daran, dass Spielzeug gekauft werden konnte, war nicht zu denken. So konnte er nur mit den Gänsen spielen.

In der Zeit vor dem zweiten Weltkrieg kam Ungarn immer stärker unter faschistischen Einfluss. Das war auch in den Dörfern zu spüren, in denen die Befragten lebten. In Zebegény lebten einige jüdische Familien. Frau Faludi weiß, dass ihre Anzahl sich als Folge der antijüdischen Gesetze verminderte. In Gyoma war die berühmteste jüdische Familie die ehrenhafte, anständige Familie Kner, die eine Druckerei besaß. Obwohl alle Angehörigen dieser Familie zu den bekanntesten und anerkanntesten Mitgliedern der Gemeinde gehörten, wurden sie wegen ihrer jüdischen Abstammung 1944 zum Arbeitsdienst nach Russland deportiert. Sándor Farkas erinnert sich, dass alle Familienmitglieder dort in einem Lager starben.
An der Donkurve, wo Ungarn auf der Seite Deutschlands gegen die sowjetische Armee kämpfte, fanden auch viele Artilleristen und Infanteristen aus Zebegény den Tod. Manche gerieten in sowjetische Gefangenschaft, so auch ein Verwandter der Urgroßmutter, der sich damals im Oberland, in der heutigen Slowakei, befand. Zebegény wurde im Dezember 1944 von den Russen besetzt, und vom 4. bis 6. Januar 1945 wurden 120 Personen aus dem Dorf nach Russland in Arbeitslager verschleppt. Aus allen Familien wurde mindestens eine Person deportiert. Ungefähr 40 Leute starben in den Lagern, die anderen konnten zurückkehren. Die letzte Gruppe der Verschleppten kehrte im August 1947 wieder heim. Noch im April 1945 wurden junge Männer aus dem Dorf als Soldaten für die russische Armee rekrutiert. Hajnalkas Urgroßmutter versteckte in dieser Zeit ihre Mutter, weil sie nur schwäbisch konnte. Auch an Einquartierungen kann sich Hajnalkas Urgroßmutter erinnern und daran, dass ein ungarischer Soldat am 21. Februar 1945 bei der vorzeitigen Explosion einer Granate in ihrem Garten starb. Zu seinem Gedenken wurde an dieser Stelle ein Brunnen errichtet.
Die Russen hinterließen ihre Spuren sowohl in Gyoma als auch in Zebegény. Die Befragten erinnern sich, dass sie alles mitnahmen, was sie fanden. Die Tiere (Pferde, Kühe und Schweine) und das Getreide mussten als Reparation abgeliefert werden. Der Dorfbevölkerung blieb fast nichts mehr zum Überleben. Die Russen waren in Ungarn zwar als Befreier meist herzlich willkommen gewesen, aber sie wurden im Laufe der Zeit zu Okkupanten.

Hajnalkas Urgroßmutter meint, die Politiker würden sich um das Schicksal der einfachen Menschen sowieso nicht kümmern. Ildikós Großvater denkt in diesem Zusammenhang daran, dass die Partei der Kleinlandwirte bei den Wahlen 1945 eine Mehrheit von 57 % bekam. Aber trotzdem wurden 1949 der Familie die Felder weggenommen, und sie musste langsam mit der Viehzucht aufhören.
An die Zeit des Sozialismus erinnern sich die Befragten in Verbindung mit einigen wichtigen Ereignissen. So wurde in Zebegény bereits 1950 eine Demonstration gegen Rákosi organisiert, und das Volk verprügelte einen Mann, der bösartig bemerkt hatte: „Sieh an, die Schwaben werden jetzt Ungarn!“ Die Ereignisse von 1956 beeinflussten das Leben der Familie von Hajnalkas Urgroßmutter nicht direkt. Die russischen Panzer fuhren durch das Dorf nach Szob und ins Oberland. Zebegény liegt ja in der Nähe der nördlichen Grenze.
Ildikós Großvater verurteilt die Ereignisse während und nach der Revolution. Seiner Meinung nach war es eine gottlose Unterdrückung, wobei 160.000 Menschen eingekerkert wurden. Und Gendarmen und einfache unschuldige Menschen wurden erschossen. Es wurde einfach in die Demonstranten geschossen, sagt er. Für Ildikós Großvater war die 56-er Revolution eher eine Gegenrevolution als ein Volksaufstand. Nach der Meinung von Sándor Farkas war das Ziel der Revolution die Schaffung einer bedrohlichen oder beängstigenden Atmosphäre. Es sei schwierig für alle gewesen, gegen die alltäglichen Intrigen zu kämpfen. Die Menschen konnten ihrer Arbeit nicht ungestört nachgehen, denn sie wurden gegeneinander aufgehetzt. Nachdem die Revolution niedergeschlagen worden war, wurden im Komitat Békés mehr als 400 Leute erhängt.

Die Urgroßmutter interessiert sich nicht mehr für die aktuelle Politik, Ildikós Großvater ist aber politsch rechtsgerichtet. Er meint, dass die Regierung Kádár alle dazu zwang, ihre Meinungen nicht ans Licht zu bringen. Die Menschen wurden introvertiert. Nur die Mitglieder der Partei besaßen Entscheidungsmöglichkeiten. Alle Rechte wurden dem Volk während des Kádár-Systems weggenommen. Hinsichtlich des EU-Beitritts von Ungarn hat der Großvater Ildikós eine widerspruchsvolle Einstellung. Zum einen öffnet dieser Beitritt den Weg der Modernisation für unser Land, zum anderen zwingt er es aber, die großen finanziellen Unterschiede zwischen Ungarn und den Mitgliedsstaaten zu bewältigen, meint er.
Beide Befragten bekunden eine eindeutig positive Einstellung zum Leben, die es ihnen ermöglichte, die Krisen und die schwierigen Situationen ihres Lebens durchzustehen. Beide sind der Überzeugung, dass ihre religiöse Einstellung ihnen dabei eine große Hilfe war. Frau Faludi ist katholisch, Herr Farkas gehört der reformierten Kirche an.


2.2. Kriegs- und Nachkriegszeit in einem schwäbischen Dorf

Dieses Interview wurde mit meinem über 70-jährigen Großvater gemacht. Er ist mit seinem Leben zufrieden und stolz darauf, dass er heute im ungarndeutschen Rentnerverein etwas für die Erhaltung des schwäbischen Brauchtums tun kann. Sein Vater war ein relativ wohlhabender Landwirt in Werischwar. Seine Mutter, ebenfalls eine Schwäbin, versorgte die sieben Kinder der Familie.
Mein Großvater hatte beim Militärdienst Glück – wie er selber sagt –, denn er musste niemals an die Front. 1945 heiratete er ein Mädchen aus einer armen schwäbischen Familie, deshalb – weil die Braut nicht reich genug war – wurde er aus seinem Elternhaus verstoßen. Einige Jahre später bauten sich jedoch meine Großeltern ein eigenes Haus in Werischwar.

Mein Großvater erzählte zuerst vom Ende des zweiten Weltkriegs. Es gab 1945/46 einen Befehl der russischen Besatzung, dass alle, die sich 1939/40 als Schwaben bekannt hatten4, deportiert werden müssen. Bereits 1944 sind ganz wenige Familien freiwillig gegangen, da sie Volksbündler5 waren.
„Unsere Familie hatte das Glück, dass es einen Verwandten gab, der ein bekannter Kommunist war, der war auch schon 1914 in der Kommunistischen Partei“. Er konnte die Kommunisten so beeinflussen, dass sie die Familie nicht aus Werischwar deportierten. Das Bergwerk Sankt Iwan wurde zu der Zeit eröffnet, und er sagte ihnen, dass sie dann keine Arbeiter hätten. Aber aus allen anderen Dörfern der Region wurden die Schwaben 1946 deportiert: aus Weindorf (Pilisborosjenõ), Irm (Üröm), Kalasch (Budakalász), Krottendorf (Békásmegyer), Schaumar (Solymár), Tschawa (Piliscsaba), die Schwaben aus Tolna, alle wurden deportiert. „Wir hatten Glück“, meint mein Großvater. Meine Großmutter hätte auch gehen müssen, ihr Vater hieß Krupp. Ein völlig deutscher Name. Die Kommunisten dachten obendrein noch, dass ihr Vater ein Volksbündler wäre. Die Schwaben meinten aber, dass er mit den Kommunisten sympathisiere. Einige sagten immer zu ihm: „Tu Kommunist“6. Schwaben, die Mitglieder in der Kommunistischen Partei waren, wurden nicht deportiert.
„Es war bestimmt, dass man innerhalb von 24 Stunden zusammenpacken muss, und dann wurde man in den Viehwaggon gepackt und war schon unterwegs.“ Mehr als 20 kg durfte keiner bei sich haben, sonst wurde man weggebracht und geschlagen, manchmal gefoltert. Diese Menschen durften nichts mehr mitnehmen, sie gingen mit leeren Händen in die Ferne. Die Sache mit der Deportation war klar, aber niemand hat gewusst, wann er drankommt. Jeder wusste, er muss gehen, nur wusste man nicht, wann. „Gute Sache, nicht wahr?“ Getötet wurde niemand, zumindest nicht hier.
Als der Zug mit Deportierten aus Kalasch (Budakalász) und Schneckenberg (Csillaghegy) an Werischwar vorbeifuhr, sind einige Jugendliche aus dem Dorf aufgesprungen. „Ich kenne auch zwei, die da aufgesprungen sind.“ Sie waren nicht auf der Flucht, sie wollten nur nicht als Soldaten enden.
Die Nationalsozialisten haben schon 1944/45 viele junge Schwaben für die deutsche Armee rekrutiert. Die, die mitgenommen wurden, sind entweder dort geblieben oder gestorben. Von Einigen hat man nie wieder etwas gehört. Es gab aber auch Ungarn, die zur deutschen Armee gingen. Solche kannte mein Großvater auch. Die versteht er aber bis heute nicht. Weiter erzählte mein Großvater von einem Mann aus dem Dorf, der Priester und Leiter des Volksbundes war, „der wurde jeder Woche zur Polizei gebracht, zum Verhör.“ Die Leute hatten Angst, dass er erhängt würde, also haben sie ihm geholfen zu fliehen. Das ganze Dorf hat ihm geholfen.
Alle waren schon weg, deportiert, aber in Werischwar konnten alle bleiben – wegen des Bergwerks. Der Verwandte, der die Kommunisten überzeugte, war 1918 im Gefängnis, weil er Kommunist war. Er solidarisierte sich mit den Schwaben, er war ja selber einer, der „alte Stehli“. Er konnte kaum ungarisch. Er wollte immer wissen, woher die Russen die Bergleute nehmen wollten, denn die Hälfte der Werischwarer arbeitete im Bergwerk.

In der Nachkriegszeit lebte man sehr schlecht. Die Familie meines Großvaters bekam keine Brotscheine, weil sie Land hatte. Brotscheine bekamen nur die Armen. Die Landbesitzer bekamen Fettscheine, aber sonst nichts, während die anderen Fettscheine, Brotscheine und Fleischscheine kriegten. Die Familie konnte trotzdem besser leben als einige andere, denn sie hatte Vieh, Kartoffeln und Bohnen. Mit Kartoffeln und Bohnen war der ganze Keller voll. Auch Tomaten wurden eingekocht. Zwar haben sie keine Brotscheine erhalten, doch Mehl haben sie bekommen. So konnte die Mutter Brot backen, natürlich mit Kartoffeln, damit es reicht.
Mit den Finanzen7 hatten sie Glück. Sie hatten drei Kühe, aber nur eine angemeldet. Deshalb konnten sie schwarz schlachten. Zum Glück hat niemand sie verraten.
Alles zusammen kann man sagen, dass die Familie Glück im Leben hatte. Sie überlebte diese Zeit ohne größeren Schaden. Mein Großvater kann noch lächeln, wenn er sich an diese Zeit erinnert. Er meint: „Egal was passiert, die Menschen können sich auch an Gutes erinnern.“


2.3. Aus dem Leben eines Soldaten im II. Weltkrieg

Das Interview haben wir mit Eszters Großvater, Vitéz Lajos Szabó F., gemacht. Aber bevor wir ihn befragt haben, haben wir in seinen Tagebüchern gelesen, und es gab auch eine Zeitung aus der Zeit des zweiten Weltkriegs, wo über den Großvater berichtet wurde. So brauchten wir nur wenige Fragen zu stellen, denn er spricht nicht gerne über diese Zeiten. Lajos Szabó ist 1919 in einem kleinen Dorf in der Nähe von Gyõr geboren und hat dort fast sein ganzes Leben verbracht, ausgenommen die Jahre zwischen 1940 und 1946, über die wir ihn befragt haben. Er ist seit 56 Jahren verheiratet und hat zwei Kinder und vier Enkelkinder. Die Familie besaß Wald und Felder. Nach der sechsjährigen Grundschule arbeitete der Großvater in der elterlichen Landwirtschaft. 1939 besuchte er aber die Landwirtschaftsschule. Lajos Szabó hatte zwei Brüder. Der eine ist wahrscheinlich an der Donkurve gefallen, aber bis heute hat die Familie keine amtliche Mitteilung darüber bekommen. Der andere ist in einem Bergwerk bei Miskolc ums Leben gekommen, wohin er wegen der sog. Malenkij-Robot verschleppt worden war. Dort hat ihn ein Aufseher erschlagen.
1940 bekam Lajos Szabó den Einberufungsbefehl. Er wurde Unteroffizier und Ausbilder, aber im Juni 1942 musste er an die Ostfront. Er erinnert sich noch genau an den Tag der Abfahrt: „Ich habe mich so gefühlt, als ob es einer der wichtigsten Tage meines Lebens ist. Ich dachte, dass das Interesse unserer Heimat es erfordert, dass wir die Heimat weit entfernt von unserem Vaterland verteidigen müssen. Wir wussten, dass wir gehen müssen, aber wir haben gehofft, dass unsere Familienangehörigen in Sicherheit sind. Sehr viele Menschen wollten von uns Abschied nehmen. Sie haben Zigaretten und Blumen in unsere Waggons geworfen. Ich habe zu Gott gebetet. Es begann zu regnen.“
Der Zug fuhr durch die Slowakei, durch Polen, durch Litauen und durch Lettland nach Russland zum Ural. Bis Kursk konnte man mit dem Zug fahren, danach musste marschiert werden. Nach 18 Tagen erreichten die Soldaten ihr Einsatzgebiet in der Donkurve. „Die erste Bombardierung haben wir noch auf dem Marsch zum Don in einem Obstgarten erlebt. 50 m von uns entfernt sind drei Bomben explodiert. Das war noch sehr ungewöhnlich für uns. Die ganze Nacht haben wir deshalb sehr wachsam verbracht. Die erste richtige Aktion war am 24. Juli am Don. Wir haben die Russen rechtzeitig bemerkt, so konnten wir sie überraschen und einkreisen. Die Russen hatten mehr als 200 Tote und viele Verwundete. Unsere Abteilung hatte damals nur einen Toten und zwei oder drei Verwundete. Zum Glück bin ich selbst unverletzt aus dem Gefecht gekommen.“
Im Dezember 1942 führte Lajos Szabó eine Militäraktion durch, über die auch in den Zeitungen berichtet wurde. Er und mehrere Kameraden bekamen den Befehl, ins feindliche Gebiet vorzudringen, nachdem zuvor ungarische Soldaten beim Auskundschaften gefangen genommen worden waren. Die Aktion begann am 3. Dezember um Mitternacht. Die Soldaten überquerten in Schneemänteln die feindliche Linie, wurden aber bemerkt und mit Gewehrfeuer empfangen. Daraufhin rannte Lajos Szabó los bis zu den russischen Stellungen und warf eine Handgranate. Für diese Heldentat wurde er dann vom Frontdienst befreit und erhielt eine Tapferkeitsmedaille. Drei Tage nach Heiligabend war er zu Hause. Bis 1944 war er dann als Ausbilder in der Kaserne. 1944 – nach der Besetzung Ungarns durch die Deutschen – kam die Militärausbildung unter nationalsozialistische Aufsicht. Szabó Lajos kam als Quartiermacher zur deutschen Armee und geriet 1945 in amerikanische Gefangenschaft. Er war zuerst im Kriegsgefangenenlager in Essen, später in der französischen Zone. Am 6. Mai 1946 ist er nach Hause gekommen.
An die Zeit im Kriegsgefangenenlager erinnert er sich noch sehr gut: „Zuerst war es sehr schwer im Lager bei Essen. Die Läuse haben uns geplagt. Wir haben kein Brot zum Essen bekommen. Das nächste Lager war in Bibelsheim, wo alles desinfiziert war. Die Läuse waren weg. Die Lebensmittelversorgung verbesserte sich, aber das Brot hat uns noch immer gefehlt.
Dort waren unsere Aufseher solche Leute, die früher in deutscher Gefangenschaft waren. Das war für mich das schlimmste Erlebnis im zweiten Weltkrieg. Zum Glück haben wir es überlebt. Wir mussten dann in Erstein in einer Zuckerfabrik arbeiten. Ich arbeitete im Depot. Vier Gefangene und vier Zivilisten waren in einer Gruppe. Wir haben pro Kopf jeden Tag 1 kg Zucker bekommen. Den mussten wir aber in der Küche abgeben. Ich wollte die anderen Gefangenen auch mit Zucker versorgen, so habe ich aus der Fabrik Zucker gestohlen und ihn in eine Decke eingerollt versteckt.
Danach mussten wir in Hatten an der Maginot-Linie Trümmer abtragen und die Stadt wieder aufbauen. Diese Arbeit dauerte bis zum 10. April 1946. Ich hatte Glück, weil ich in einem Gasthaus auch als Korbflechter arbeiten konnte. Ich hatte vor dem Haus Weiden entdeckt und gefragt, ob sie Weidenkörbe brauchen könnten. Ich habe für meine Arbeit Wein, Schnaps und gutes Essen bekommen. Der Gastwirt hatte zwei hübsche Töchter, die Ungarisch lernen wollten. Ich hätte es sie lieber einzeln gelehrt, aber ihre Mutter verhinderte es leider.“

Zur goldenen Hochzeit haben Herr Szabó und seine Frau von ihrem Sohn eine Rundreise zu den Orten, in denen er in Gefangenschaft war, geschenkt bekommen. Die letzte Station war Hatten, wo sich heute ein Maginot-Museum befindet. „Diese Fahrt war schon angenehmer als die erste,“ meint er.


2.4. Eine Erinnerung

Ein alter Mann in braunem Anzug sitzt auf einer Bank an der Bushaltestelle. Seinen Hut hat er in seiner Hand. Er ist schon unruhig, denn er wartet schon eine halbe Stunde. Er wusste nicht genau, wann der Bus kommt. Aus Langeweile nimmt er ein Brot aus seiner Tasche und beginnt langsam zu essen. Dann kommen zwei Frauen und viele Kinder. Der Unterricht hat aufgehört – denkt er. Er lauscht den Gesprächen der Kinder. Sie reden durcheinander. Der alte Mann lacht. Plötzlich hört er Stimmen hinter sich. Es sind zwei junge Männer, die ein ernsthaftes Gespräch führen. Sie haben ihren Einberufungsbefehl bekommen. Sie sind ganz verbittert. Der Alte schmunzelt, aber plötzlich gewinnt sein Blick etwas Ernsthaftes. Es tauchen Erinnerungen auf, und er vertieft sich in seine Gedanken: Einmal war ich auch so jung wie diese jungen Leute – denkt er – und mich hat mein Einberufungsbefehl auch erschreckt. Es war damals eine schwere Zeit, der II. Weltkrieg tobte schon, als plötzlich auch Ungarn in den Krieg eintrat. Zu dieser Zeit planten wir unsere Hochzeit. Ich habe noch heute das Gesicht meiner Mutter und meiner Frau vor mir, als ich ihnen den Brief zeigte. Ich wollte stark sein, ich beruhigte sie – ich komme zurück –, aber in meinem Herzen war ich voll von Zweifeln. Ich wusste nämlich ganz sicher, dass ich zur Donkurve gehen muss.
Die Regierung gab uns nicht viel Zeit. Innerhalb einer Woche mussten wir unsere persönlichen Sachen in Ordnung bringen und Abschied von den Freunden nehmen. Ich erinnere mich noch ganz gut daran, was mein Vater zu mir gesagt hat: „Du musst es überleben und wieder heimkehren, aber vergiss nicht, du sollst Mensch bleiben!“ Damals habe ich seine Worte nicht ganz verstanden, heute aber weiß ich, was er damit gemeint hat. Meine Mutter gab mir ihr Gebetbuch mit. Ich hatte es immer bei mir. Aber das Liebste war mir der Ring an meinem Finger, der mir immer Kraft gab, nicht aufzugeben und trotz der Schrecknisse des Krieges die Liebe in meinem Herzen zu bewahren.
Wir hatten noch Glück, denn wir wurden mit Lastwagen und mit dem Zug in die Dongegend gebracht. Aber es war viel schrecklicher als ich es mir vorgestellt hatte – zerfetzte Leichen überall, und Männer, die noch am Leben waren, aber alle ihre Gliedmaßen verloren hatten. Die Versorgung war vollkommen unzureichend. Wasser gab es jeden Tag nur einen Topf, woraus wir trinken und uns ein wenig waschen konnten. In unserem Lager war nur ein Wundarzt, aber so viele Verletzte, dass es unmöglich war, allen zu helfen. Es herrschte immer ein großer Mangel an Morphium, Medikamenten und an Verbandszeug. Nur diejenigen wurden ins Lazarett gebracht, die eine Chance zum Überleben hatten. Nun, wo ist hier die Menschlichkeit? Es schien mir immer mehr so, dass wir alle hier sterben würden. Wir hatten unsere Hoffnung verloren.
Nach einer Woche kam der nächste Schub mit neuen ungarischen Soldaten. Unter ihnen war ein Junge, der ein echter Spaßmacher war. Er konnte uns wieder zum Lachen bringen. Sein Hobby war das Tätowieren. Auch für mich zeichnete er eine Taube. Als ich sie auf meinem Arm sah, hatte ich das Gefühl, dass ich den Krieg überleben würde. In der Woche danach gab es eine große Offensive. Ich wurde schwer am Bein verletzt. Der Wundarzt konnte die Kugel entfernen, doch ich musste ins Krankenhaus gebracht werden, wenn ich mein Bein nicht verlieren wollte. Und welch ein Glück hatte ich! Ein Kommandant musste nach Budapest zurückkehren, und er hat mich und noch einige schwer verletzte Soldaten heimgebracht. Mein Bein wurde operiert und innerhalb von drei Monaten konnte ich heimkehren. Wie groß war die Überraschung! Alle brachen in Tränen aus. Zum Glück musste ich nicht wieder an die Front zurückkehren. Ich habe geheiratet und ich glaubte, Ruhe zu finden, denn wir hörten, dass der Krieg schon zu Ende geht.
Aber unser Glück dauerte nicht lange an. Ja, der Krieg war vorbei, die Soldaten konnten heimkehren. Aber das bedeutete noch nicht Frieden, sondern die Fortsetzung der Gewalt, denn russische Truppen marschierten im Land ein und besetzten Städte und Dörfer. Wir konnten nur darauf hoffen, dass sie unser Dorf verschonten. Aber das geschah nicht. Sie marschierten grausam ein. Alles haben wir verloren. Sie haben unsere Tiere geschlachtet, unser Haus zerstört und alle wertvollen Sachen weggenommen. Zum Glück konnten wir Einiges verstecken. Viele Frauen wurden vergewaltigt, die Männer verprügelt. Alles wurde noch schlimmer, als sie eine Liste mit Namen veröffentlichten. Es war egal, ob man jung oder alt, schwach oder stark war, sie haben nur auf die Abstammung gesehen. Diejenigen, die auf der Liste standen, wurden registriert. Und wie das Vieh auf die Schlachtbank, so wurden die Menschen zu den Lastwagen gebracht. Wir durften nichts mitnehmen. Ich wusste gar nicht, wohin wir gebracht werden sollten. Ich wusste nur, dass ich lieber sterben würde als Ungarn zu verlassen. Mein Bruder war mit mir zusammen. Unterwegs dachten wir nur daran, wie wir fliehen könnten. Die Russen haben mehrmals Pause gemacht. In einem Dorf, nicht weit von der Grenze, hat ein Mann einen Russen erschossen. In diesem Durcheinander konnten wir fliehen. Nur noch ein Junge wagte es, mit uns zu kommen. Die anderen hatten vielleicht Angst, dass sie erschossen werden würden, wenn die Soldaten die Flucht bemerkten.
Wir wollten uns nach Hause durchschlagen, aber wir waren sehr vorsichtig. Die Städte haben wir vermieden. Tagsüber suchten wir immer Plätze, wo wir uns verstecken konnten, und als die Dunkelheit eintrat, setzten wir unseren Weg nach Hause fort. Trotz der vielen Gewalttätigkeiten, die sie erleiden mussten, waren die Dorfbewohner immer sehr hilfsbereit. Bei einer Familie, die ich nie vergessen werde, verbrachten wir eine Woche, denn die Russen waren in der Gegend stationiert, und es wäre gefährlich gewesen, wenn wir ohne Papiere ertappt worden wären. Sie haben damit, dass sie uns versteckt haben, ihr Leben aufs Spiel gesetzt. Aber wir haben es geschafft, wieder nach Hause zu kommen. Zu unserem Glück ist in unsere Nachbarschaft eine russische Witwe gezogen, die uns sehr geholfen hat. In ihrem Keller konnten wir uns verstecken. Hmm…

Das war wohl eine schwere Zeit, nicht so wie heute. Man muss nur neun Monate zum Militär, und es ist kein Krieg und doch schimpfen sie. Aber ich kann es verstehen, das Militär ist kein Paradies.
Der alte Mann lächelte wieder. Inzwischen war der Bus angekommen, die Kinder liefen die Stufen hinauf, der alte Mann ging hinter ihnen her, schüttelte den Kopf und stieg ein.

Er konnte Mensch bleiben!


2.5. Der Anfang der LPG-Zeit

Ich habe dieses Interview mit meinem Großvater über die Anfänge der LPG-Zeit in unserem Dorf Jászszentandrás gemacht. Jászszentandrás ist ein kleines Dorf, das ca. 100 km östlich von Budapest liegt. Es hat etwa 3000 Bewohner, die sich großteils mit Landwirtschaft beschäftigen. So wurden sie von der Kollektivierung nach dem zweiten Weltkrieg fast hundertprozentig betroffen.
Mein Großvater ist am 19.06.1919 in Heves geboren, aber 1929 ist seine Familie nach Rákhát (ein Dorf in der Nähe von Kisköre) gezogen. Er hatte 4 Brüder und eine Schwester. Mein Großvater besuchte 6 Jahre die Grundschule. Als er 12 Jahre alt war, lernte er bei einem Hauptverwalter (fõintézõ, einer, der bei einem Baron oder Grafen arbeitet und verantwortlich für die Leitung der Landwirtschaft ist). Dort arbeitete er, bis er 1940 zum Militärdienst eingezogen wurde. Er wurde da Zugführer („jemand, der eine relativ kleine militärische Einheit führt“ {Langenscheidts Großwörterbuch}), und war für die Verpflegung verantwortlich. Zweimal wurde er verletzt. Deshalb bekam er das Militärverdienstkreuz. Er kämpfte monatelang in der „Todeskurve“, am Don. Als die Russen nach Westen marschierten, floh er mit seinen Kameraden vor ihnen über Ungarn und Österreich bis nach Deutschland. Er und seine Kameraden wurden dort am 05.05.1945 um 17:00 von den Amerikanern am Hauptbahnhof in München verhaftet. Mein Großvater fühlte sich gut in seiner Gefangenschaft. Er arbeitete in jenem Büro, das sich mit den Ausweisen der verhafteten Ungarn beschäftigte. Fast trat er in die amerikanische Armee ein, aber da endete der zweite Weltkrieg, und die Soldaten wurden nicht mehr gebraucht. Sie durften in Deutschland bleiben. Die Amerikaner rieten sogar, nicht nach Hause zu fahren. Trotz der Warnungen fuhr mein Großvater im Jahr 1946 aus Heimweh nach Hause. Zu Hause, als er mit dem Zug ankam, wurde er fast sofort nach Sibirien deportiert, aber ein alter Kamerad hat ihm geholfen. Politisch gehörte er zu der damaligen „Kisgazda Párt“ (Partei der Kleinlandwirte). Er arbeitete dann mit seinen Geschwistern in ihrer Landwirtschaft, denn im Jahr 1947 war sein Vater gestorben. In diesem Jahr wurden sie Mitglieder der LPG, weil ihre Felder mit ihrem Haus kollektiviert wurden, und sie nur bleiben durften, wenn sie in der LPG arbeiteten. 1950 heiratete mein Großvater und zog nach Jászszentandrás. Er arbeitete in der LPG als Kutschenfahrer bis 1972. Danach war er bis zu seiner Rente in Salgótarján als Arbeiter beim Straßen- und Kanalisationsbau beschäftigt. Mit 62 wurde er wegen Krankheit vorzeitig pensioniert. Jetzt ist mein Großvater 83 Jahre alt und verhältnismäßig gesund. Er arbeitet immer noch viel und gerne in seinem Garten.
Ich fragte meinen Großvater, wie er die Kollektivierung erlebt hat, wann und wie sie begonnen hat:
Die Kollektivierung hat erst ein paar Jahre nach dem zweiten Weltkrieg begonnen. Sie hatte eigentlich zwei Wellen. Mit dem Erstarken der Kommunistischen Partei wurde das Leben für die Großlandwirte immer schwerer. „Tod den Kulaken !“8 tönte das Geschrei. Die Felder dieser Kulaken wurden kollektiviert. Sie wurden zwischen Leuten, die früher keine Felder hatten, aufgeteilt. Es gab nur ein Problem, nämlich dass diese Leute ihre neuen Felder alleine nicht bearbeiten konnten oder wollten. Das führte zur Gründung von Organisationen dieser Kleinlandwirte, um einander zu helfen. So entstanden die ersten LPGs (Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften) in Ungarn. Diese neuen LPGs bekamen die Felder solcher Kleinlandwirte, die ihre Felder aus verschiedenen Gründen nicht behalten wollten. Die Besitzer zogen meistens nach Budapest, wo beim Wiederaufbau der Stadt viele Arbeiter benötigt wurden.

Auf die Frage, ob es verschiedene LPGs gab, erklärte mir mein Großvater Folgendes:
Wo die Kleinlandwirte ein Bündnis schlossen (wie bei uns in Jászszentandrás), wurden LPGs gegründet, aber wo der Staat die Felder von Grafen und Baronen kollektivierte, entstanden die sogenannten Staatsgüter. Diese Prozesse wurden von dem Staat organisiert, anders als bei den LPGs, die zuerst spontan gegründet wurden. Weitere Unterschiede waren, dass die Leute, die auf den Staatsgütern arbeiteten, monatlich bezahlt wurden, im Gegensatz zu den Arbeitern von LPGs, die pro Jahr nach Arbeitseinheiten bezahlt wurden.

Was diese Einheiten bedeuteten, wusste mein Großvater nicht genau.
Man konnte pro Tag 2-3 Einheiten erarbeiten. Eine Einheit kostete so und so viel Forint, aber wie viel, weiß ich nicht mehr. Wichtig war, dass die LPG zwei Buchführungen hatte und nicht genau bezahlte. Es bedeutete, dass ein Papier existierte, das die realen Arbeitseinheiten enthielt, auf dem zweiten Papier, nach dem die Leute ihren Lohn bekamen, standen weniger Einheiten. Deswegen bekamen die Arbeiter weniger als sie verdient hätten.

Mein Großvater verdiente:
pro Jahr ca. 1000 Forint. Damals kostete 1 Kilo Brot 1-2 Forint, d.h., wenn wir uns Brot gekauft hätten, hätten wir kein Geld übrig gehabt. Wir mussten unser Brot selbst backen und das Futter für unsere Tiere in der Nacht von den LPG-Feldern stehlen, weil wir es auch nicht bezahlen konnten.

Mein Großvater erklärte auch, dass es noch viele andere Belastungen gab.
Ja, Tiere, Felder, Maschinen sollten abgegeben werden. Man durfte von diesen Gütern nur eine bestimmte Menge haben, daher hatte die Familie meines Großvaters eine Abgabepflicht. Es bedeutete, dass wir für eine bestimmte Menge von Gütern eine bestimmte Menge von Waren abgeben sollten. Zum Beispiel, wer Hühner hatte, sollte immer eine bestimmte Menge von Eiern abliefern, unabhängig davon, ob man für sich selbst genug hatte. Das Schlachten sollte erlaubt und registriert werden. Wenn man Schweine schlachtete, musste man Fleisch und Fett abgeben. Schwarzschlachtungen gab es natürlich auch, aber man musste sehr vorsichtig sein, weil sogar die Nachbarn es melden konnten.
Nur zwischen 1956 und 1959 gab es keine Abgabepflicht, dadurch konnte sich die Landwirtschaft langsam entwickeln. Der Großvater wollte sich in diesen Jahren zum Beispiel eine Kutsche kaufen.
1959 kam die zweite Welle der Kollektivierung. Neue LPGs wurden wieder organisiert. Neue Agitationen begannen. Alle Felder wurden kollektiviert. Die Agitationen wurden von Leuten aus anderen Dörfern gemacht. Sie sollten die anderen Bauern davon überzeugen, dass das Beste, was sie tun könnten, der Eintritt in die LPG sei. Es gab verschiedene Methoden der Überzeugung. Zuerst mit Reden und mit höflicher Sprache. Dann wurden die Methoden ein bisschen schärfer. Die Leute, die nicht eintreten wollten, wurden zusammengerufen und mit Gewalt verpflichtet. Solche Methoden waren z.B.: die Bauern in einem gut geheizten Saal im Mantel sitzen lassen, einen Eimer über den Kopf ziehen und so den Mann oder den Eimer schlagen. Es gab auch verschiedene „Selbstmorde“, deren Umstände nicht klar waren. Zum Beispiel stürzte sich ein Mann vom Kirchturm. Man weiß nicht, ob er alleine war oder ob er Hilfe dabei hatte.

Für meinen Großvater war es ein Nachteil, dass er kein Parteimitglied war:
Es gab für ihn nur wenig Arbeitsmöglichkeiten. Er durfte nur die schwersten Arbeiten übernehmen und bekam keine leitende Position. Auch für die Kinder der Mitglieder von der Partei war es leichter weiterzulernen, die anderen konnten selbst mit vielem Lernen keine gute Ausbildung bekommen.


2.6. Das Interview mit meinem Großvater

Ich habe mir lange überlegt, mit wem ich das Interview führen soll. Mein Großvater ist mir nicht gleich eingefallen. Ich weiß nicht, warum. Dann habe ich meine Mutter gefragt, was sie von dieser Idee hält, mit Großvater ein Interview über die Ereignisse von 1956 zu machen. Sie meinte, er würde bestimmt nicht viel und gerne über diese Zeit sprechen wollen, wenn es nicht sein muss. Großvater hat nie etwas über 1956 erzählt. Er war damals Polizist.
Jetzt wollte ich das Interview noch lieber mit ihm machen! Als ich ihn deswegen zum ersten Mal gefragt habe, erhielt ich eine Abfuhr. Ich war sehr enttäuscht, wollte aber nicht aufgeben. Deshalb ging ich bald wieder zu ihm, hoffte, dass er bessere Laune hätte als zuvor und – hatte Glück!! Er willigte ein. Er saß in seinem Sessel vor dem Fernseher – wie immer –, hatte eine Zigarette im Mund und machte einen völlig ruhigen Eindruck. Er ist ja so liebenswert. Ich schaute ihn an, und mir fiel ein Foto von ihm ein, das er mir vor ein paar Jahren gezeigt hat. Es war ein kleines Passfoto, aber ich schwöre, er sah darauf Elvis Presley sehr ähnlich. Ich weiß, das klingt ein bisschen übertrieben, aber egal. Es ist eben so. Nun nahm er genau dieses Foto aus seinem Geldbeutel und zeigte es mir. Im Zimmer war eine merkwürdige Stimmung. Irgendwie waren wir gar nicht mehr anwesend. Ich fragte ihn zuerst nach seiner Familie, und er fing an zu erzählen.
Mein Großvater ist 1931 in Békéscsaba geboren. Er hatte sechs Geschwister: Sein Zwillingsbruder war als Soldat im zweiten Weltkrieg und ist vermisst. Die Eltern stammten aus Hódmezõvásárhely, und nachdem der Vater 1950 Rentner wurde, zogen sie dahin. Mein Großvater erzählte mir von dieser Zeit:
„Dann zogen wir nach Vásárhely. Ich hatte keine Lust. Das ist aber – glaube ich – nicht überraschend. Ich bin in Békéscsaba aufgewachsen und hatte eine Verlobte. Wer wollte da schon weg? Aber ich folgte meiner Familie. Und dann kam die Einberufung. Ich sollte Rekrut werden. Ehrlich gesagt hatte ich überhaupt keine Lust dazu. Da fiel uns die Lösung ein: Ich konnte Polizist werden, um dem Militärdienst zu entgehen. Das wäre immer noch besser als das Soldatenleben. Ich wurde also Polizist. Es war gar nicht so schwer, denn mein Vater hatte gute Bekannte. Doch als ich bei der Polizei war, wurden die Bergleute vom Militärdienst befreit und die Polizisten und die Feuerwehrleute wurden wieder rekrutiert. Ich habe mich sehr über diese Veränderung ‘gefreut’. Das kannst du dir ja vorstellen. Aber ich musste gehen. Man hat mich nach Kiskunhalas und nach Kalocsa geschickt. Da wurde ich Büroleiter der Division. 1955 kam ich wieder nach Hódmezõvásárhely zurück, war wieder Polizist.“

Als mein Großvater 1955 seinen Dienst bei der Polizei wieder aufnahm, merkte er noch nichts von den kommenden Ereignissen. Alles war ruhig. Erst im Sommer 1956 kamen die ersten Nachrichten, dass etwas im Gange ist und dass es Aufregungen in Budapest gibt. Auch die Menschen in Vásárhely wurden immer nervöser und unzufriedener. Der Großvater musste Leute festnehmen, weil sie rebelliert oder sonst etwas angestellt hatten. Jeder hatte Angst, aber niemand sah sich imstande, diese Art von Leben weiter zu verkraften. Man sagte, dass die Leute von der ÁVH9 getötet werden sollten. Die ÁVH hatte vor allem die Aufgabe, die Führer der Partei (MDP) zu schützen. Mein Großvater sagt, dass es sehr brutale Leute waren. Wenn sie einen in ihre Hände bekamen, haben sie ihn geprügelt, gequält. Sie mussten keine Gesetze oder Regeln einhalten. „Wenn sie jemanden quälen wollten, dann durften sie das! Wenn sie jemanden umbringen wollten, durften sie das auch! Sehr viele bekannte Personen wurden festgenommen und dann zum Beispiel deshalb getötet, weil sie des Landesverrats verdächtigt wurden. Und nicht nur welche aus dem öffentlichen Leben, sondern auch einfache Menschen verschwanden. Eine Anzeige zum Beispiel von dem Nachbarn genügte, und ein Auto von der ÁVH kam und .... . Der Terror wurde allgemein. Die Leute hatten Angst, dass sie irgendwann auch mitgenommen und auch verschwinden werden. Kein Wunder, dass die Leute wütend waren. Dazu kam, dass das Realeinkommen sank. Es gab keine Kohle, um zu heizen. Und es gab zu wenig Essen. Aber in den Zeitungen lasen sie, dass die Einwohner sehr zufrieden und glücklich sind, was überhaupt nicht stimmte. Die jungen Leute, die Studenten, wollten natürlich einen Systemwechsel. Sie hatten große Pläne. Sie hatten das schon lange geplant. Sie hatten das in 16 Punkten zusammengestellt. Auch die Bauern verlangten ihre Grundstücke zurück. Am 23. Oktober versammelten sich die Menschen in Budapest. Anfangs war das eine Demonstration, dann aber wurde es zu einem bewaffneten Aufstand. Sie stürzten die Statue Stalins um und drangen in das Gebäude des Radiosenders ein. Aber am Ende wurden sie besiegt.“

Mein Großvater erzählt, dass in diesen Tagen in Hódmezõvásárhely niemand zur Arbeit ging. Statt dessen gab es eine Versammlung auf dem Marktplatz und anschließend einen Demonstrationszug, der sehr schnell anschwoll. Trotzdem waren die Polizisten in Vásárhely nicht so sehr beunruhigt. Sie dachten, was in Budapest passiert, passiert in einer so kleinen Stadt bestimmt nicht. Wenn sich jemand sehr provokativ benahm, musste man ihn natürlich festnehmen. Aber dann dramatisierte sich das Geschehen: „Dann kam die Nachricht, dass die Russen aus Rumänien kommen, um den Aufstand niederzuschlagen. Und die Menge ging mit Spaten und Hacken los zur Grenze, wartete dort auf die Russen. Sie kamen auch. Ein paar Leute starben. Das war genug. Die Menschen flüchteten nach Hause. Niemand traute sich, noch etwas zu machen. Die Russen blieben ja in der Stadt. So war ein allgemeines Angstgefühl zu spüren. Dann hörte man von den Dingen, die in Budapest passierten, wie in die Menge geschossen wurde, dass viele getötet wurden.“

Die Polizei in Vásárhely musste jetzt Leute einsperren, die an dem Aufstand teilgenommen hatten. Ich befragte meinen Großvater dazu.
– Was passierte mit den Leuten, die ihr eingesperrt habt?
– Hm ... - ja. Wir mussten sie fragen, wer sie beauftragt hat, mit wem sie Kontakt hatten, ob sie noch weitere Personen nennen können. Und noch mehr solcher Fragen. Wir hatten auch unsere Mittel. Wenn sie nicht reden wollten, dann haben wir sie geschlagen. Das war unsere Aufgabe. Wir bekamen diesen Befehl.
– Und ist es euch gelungen, so die Wahrheit zu erfahren?
– Ja, schon. Aber die Leute von der ÁVH kamen auch zu uns, und die hatten brutale Mittel. Sie haben die Männer, die wir festgenommen hatten, wirklich gequält. Es war natürlich nicht gut, dass wir die Leute schreien und stöhnen hörten, aber wir waren auch Polizisten. Wir konnten nichts dagegen tun.
– Du hast damals Großmutter kennen gelernt, die neben der Polizei wohnte.
– Ja. Im Sommer habe ich sie zum ersten Mal gesehen, und ich wollte sie unbedingt kennen lernen. Ich hatte zwar eine Verlobte, wie ich schon erwähnte, aber das hat mich nicht gestört. Sie hat mit ihrer Mutter neben dem Amt gewohnt. Und als diese großen Verhöre waren, hat sie mir erzählt, dass sie die mitbekommen hat. Ihr gefiel das überhaupt nicht.
– Ich weiß, dass du seit 1957 nicht mehr Polizist bist. Wieso hast du aufgehört?
– Du willst alles wissen, nicht wahr? Eigentlich hat mich deine Großmutter beeinflusst. Sie wollte nicht, dass ich Polizist bleibe.
– Eigentlich? Welche Gründe gab es denn noch?
– Weißt du, es war nicht einfach, dies alles mitzuerleben. Ich musste Dinge tun, die mir nicht gefielen. Ich habe Dinge getan, auf die ich nicht stolz bin .... . Die Leute von der ÁVH wurden nach wie vor von der Bevölkerung gejagt, und auch in Vásárhely wurden welche getötet. Sie wurden erhängt. Neben der Straße an einem Baum aufgehängt, damit jeder von der ÁVH sieht, was mit ihm passieren kann. Ich hatte einen Bekannten, der bei der ÁVH war. Ich habe ihn tagelang versteckt. Dann fuhr er weg. Ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist. Ich hatte genug davon. Das war nichts für mich.
– Hast du es später bereut, dass du aufgehört hast?
– Nein, überhaupt nicht. Ich habe gleich eine andere Arbeit gefunden. Ich war zufrieden und deine Großmutter war auch zufrieden. Die späteren Ereignisse habe ich als Geschäftsführer eines Restaurants erlebt und nicht als Polizist. Und das war auch gut so.
– Danke für dieses Interview, Großvater.

Nach dem Interview wendet sich mein Großvater wieder dem Fernseher zu, schaltet ihn ein und informiert sich über das aktuelle Sportgeschehen. Ich bin in Gedanken immer noch in der Zeit, von der er mir gerade erzählt hat. Ich weiß, dass er mir nicht alles erzählt hat. Ich weiß das einfach. Aber wahrscheinlich möchte er manches für sich behalten. Ich bin ihm deswegen nicht böse. Nein, im Gegenteil, ich bin sehr glücklich, dass er mir diese Geschichte erzählt hat. Ich werde es nie vergessen. Und er die Dinge nicht, die damals geschehen sind.


2.7. Menschenschicksal unter dem Kommunismus

In Ungarn war das Leben nicht immer und nicht für alle so „schön“. Nach dem Zweiten Weltkrieg existierte nur für eine kurze Zeit eine Demokratie und ein Mehrparteiensystem. Nach dem Jahre 1947 wurde unter Rákosi das Einparteiensystem eingeführt. Die politische Situation in der Rákosi-Ära war gekennzeichnet durch Angst, Unzufriedenheit, Terror, Unsicherheit der Existenz, Verfolgung der Religion, Einschüchterung. Die Leute verdienten sehr wenig und die Wirtschaft wurde ruiniert. Das hieß, dass die bestehende Industriegesellschaft zerstört wurde. Die private Bewirtschaftung von Bauernhöfen wurde verboten, die Produktionsmittel in Beschlag genommen und sie wurden kollektiviert. Zuerst wurden die reichen Bauern, später auch die ärmeren in Arbeitslager in die Sowjetunion oder nach Recsk verschleppt. Die einzige Aufgabe war der Aufbau des Sozialismus und deswegen erhöhte das Rákosi-Regime auch die Steuern.
Nach dem Tod von Stalin wurde der sowjetische Einfluss schwächer. Imre Nagy bildete eine Regierung. Während seiner Regierung von 1953 bis 1955 wurden die Steuern gesenkt und die Kollektivierung etwas zurückgenommen. Auch die Gesellschaft wurde nicht mehr kriminalisiert. Aber die Männer von Rákosi hatten noch immer wichtige Positionen im Staat, und ab April 1955 wurde Imre Nagys Macht geschwächt. Aber die Verhältnisse waren nicht so, dass die Diktatur wieder hergestellt werden konnte. Die Situation wurde auf die Spitze getrieben, und am 23. Oktober 1956 explodierte die Bombe: Es gab einen bewaffneten Aufstand. Diese Revolution war der erste Versuch, eine politische Wende herbeizuführen. Imre Nagy sollte noch einmal ein Kabinett bilden. Leider dauerte der Aufstand nur ein paar Tage, denn die sowjetischen Panzer kamen ins Land und schlugen alles nieder.

Die hier geschilderten Ereignisse wirkten sich unmittelbar aus auf das Leben von Gyula Mester, den Großvater einer der Verfasserinnen dieses Textes. Gyula Mester stammt aus einer Handwerkerfamilie, die in einem Dorf an der Grenze zu Jugoslawien ansässig war. Sein Vater hatte eine Fleischerei und Metzgerei; er arbeitete dort mit seinen zwei Brüdern und seiner Familie. Während der Kollektivierung wurde ihr gesamter landwirtschaftlicher Besitz beschlagnahmt. Sein Vater wurde interniert, angeblich wegen seiner Schulden, was aber nicht wahr war. Die Anklage lautete, dass er schwarz geschlachtet hätte. Der eigentliche Grund war, dass die Familie reicher war als die anderen im Dorf Kelebia. Die Familienmitglieder wurden nach diesen Ereignissen als Klassenfeind10 behandelt. Der Vater musste für vier Jahre ins Gefängnis.
Die Nachrichten über ‘56 verbreiteten sich sehr langsam auf dem Land, aber in Kelebia wusste man sehr früh davon, weil das Dorf im Grenzgebiet in direktem Kontakt mit Budapest durch die Zugverbindung stand. „Dank“ der allgemeinen Unzufriedenheit herrschte auch auf dem Lande eine rebellische Atmosphäre, und eine kleine „Revolution“ fand auch in Kelebia statt. Zuerst organisierten die Eisenbahner den Aufstand, dann schlossen sich die Grenzwächter und die Soldaten und die Einwohner an, später auch die Polizei von Kelebia.
„Wir haben Versammlungen gehalten und ein revolutionäres Nationalkomitee gegründet. Die Polizei hat uns Waffen gegeben, um uns zu unterstützen. Der Leiter der Nationalgarde war der Hauptpolizist in Kelebia. Er und noch drei Männer haben dafür gesorgt, die öffentliche Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten. Die Leute wollten Vergeltung üben. Das konnten wir nicht zulassen! Wir haben beim Friseur den Chef vom lokalen FEP (Forgalmi Ellenõrzõ Parancsnokság = Verkehrskontrollkommando) entwaffnet und ihn mit noch drei anderen Kommandanten ins Gefängnis gebracht. Wir wollten einen neuen Leiter für das Dorf wählen.“
Als die Revolution in Budapest niedergeschlagen und Imre Nagy verhaftet worden war, veränderte sich die Situation auch in Kelebia. Obwohl die Einwohner während der Revolution nichts Gewalttätiges getan hatten, wurde – nachdem die Kommunisten wieder die Oberhand bekommen hatten – kräftig Vergeltung geübt. Am 3.11.1957 wurden in der Nacht die Leiter des revolutionären Nationalkomitees verhaftet. Man brachte sie gefesselt in die Polizeistation nach Kiskunhalas. Hier wurden sie verhört und dann nach Kecskemét weitergebracht, wo ein Prozess gegen sie geführt wurde. Sie wären auch in die Sowjetunion gebracht worden, wenn die USA nicht dagegen votiert hätten. „Es gab solche, die sofort geflüchtet sind. Von den zehn Leuten sind nur ganz wenige übrig geblieben. So konnten wir die Anklagen auf diejenigen schieben, die nicht mehr da waren, sondern in Jugoslawien. Aber einige sind zurückgekommen, dann war es umso schlimmer für sie. Die Kommunisten haben ihnen zwar versprochen, dass sie ganz ruhig zurückkehren können, aber das war natürlich nicht wahr. Sie wurden auch verhaftet, und noch wegen der Flucht angeklagt.“
Die Strafe für Gyula Mester war ein Jahr und 6 Monate Gefangenschaft in dem Internierungslager in Kistarcsa, für seinen Bruder ein Jahr. Auch die anderen bekamen ein bis zwei Jahre Haft. Das Ziel war, durch diese Strafen die Menschen einzuschüchtern und Vergeltung zu üben. In der Gefangenschaft waren Misshandlungen und brutale Schläge an der Tagesordnung, die manchmal zum Tod führten. Wie die Strafe ausfiel, hing sehr stark damit zusammen, von welchem Richter ihre Sache verhandelt wurde. In Kecskemét arbeitete auch der sog. Todesrichter, aber Gyula Mester hatte Glück, weil er einen anderen Richter bekam.
„Im Gefängnis hatten ich und mein Bruder Glück, weil wir nicht oder fast nicht geprügelt wurden. Aber die anderen… Viele wurden getötet, Jugendliche und Alte. Ein Menschenleben zählte bei ihnen einfach nichts. Es ist sehr schwer, darüber zu sprechen. Ich habe auch nach vielen Jahren selten etwas aus dieser Zeit erzählt. Nur dir jetzt, Judit. Die Leute wurden schlimmer als die Tiere behandelt, und die Wächter waren auch unbarmherzig. Einfach unmenschlich.“
Sein Bruder durfte einmal nach Hause fahren, aber es war verboten, über das Geschehene zu sprechen. Im Jahre 1958 kehrte Gyula Mester nach Kelebia zurück. Seine Lage war sehr schwierig. Er bekam keine Arbeit, weil er ein „Konterrevolutionär“ war. Seine Freunde mieden ihn und auch seine Familie, weil alle vor ihm Angst hatten, Angst vor den Folgen, die ein Gespräch mit ihm nach sich ziehen konnte. Ihm wurde das Wahlrecht entzogen, und seine Redefreiheit war streng begrenzt. Nach einigen Jahren ist er mit seiner Familie nach Pálmonostora gezogen. Doch auch danach blieb die Situation für sie schwierig in dem neuen Wohnort, und auch für die verbliebenen Familienmitglieder in Kelebia. Er konnte seine Familie nur sehr schwer versorgen und stand immer unter der Aufsicht der Polizei (FEP). Nach Jahren erst bekam er eine Arbeit weit weg von seinem Zuhause angeboten. Aber er hatte keine Wahl, er musste diese Arbeit annehmen. Er arbeitete als Kaufmann im Geschäft eines Zigeuners in Hódmezõvásárhely.
„Ich wurde immer durch Spitzel beobachtet. Zuerst wussten wir das eigentlich nicht. Einmal hatten wir Gäste aus Jugoslawien, und wir haben uns in der Kneipe getroffen, dort, wo ich gearbeitet habe. Am nächsten Tag wurde ich verhört, wer und warum dieser Mann da war. Der Kommandant bei der Polizei hat mir gesagt, dass ein Mann, den ich auch kannte, und der immer in der Kneipe saß, ein Spion sei, der mich beobachten soll. Danach war ich vorsichtiger, obwohl ich nichts getan habe.“
Seine Frau war Lehrerin und wurde auch diskriminiert. Sie bekam keine Prämien für ihre Arbeit wie die anderen. Wenn in der Schule ein Fest oder eine Feier war, sprach niemand mit ihr. Sie wurde ausgegrenzt. Ihr Sohn konnte auch nicht so einfach studieren, denn es gab eine Regelung, dass es den Verwandten der ‘56er Revolutionäre verboten war, an Universitäten und Hochschulen zu studieren. Nur mit der Hilfe eines Bekannten konnte sich der Sohn an einer Hochschule immatrikulieren. Später wurde der Sohn als Pioniersekretär empfohlen, aber er konnte diese Position „als der Sohn eines Konterrevolutionärs“ nicht übernehmen.
Erst in den 80er Jahren gab es Erleichterungen, aber für die Familie war das kein richtiger Fortschritt, weil sie sogar noch 16 Jahre nach der Revolution beobachtet wurden. Erst nach der Wende 1989/90 verbesserte sich die Situation der Familie entscheidend. Gyula Mester erhielt im Jahre 1991 eine Auszeichnung und seine Verurteilung wurde nachträglich aufgehoben. Für die Haftstrafe bekam er eine Entschädigung zugesprochen.
„Das war aber keine echte Wende, meine ich. Wenigstens auf dem Lande. Die Leute, die unter dem Kommunismus in guten Positionen waren, sind dort geblieben. Für uns bedeutet die Wende nur, dass wir jetzt frei über alles reden können. Und was können wir damit anfangen? Wir ärgern uns, aber das hat keinen Sinn. Sonst ist das Leben sehr seltsam. Als mein Vater interniert war, musste er mit den anderen Gefangenen das Lager in Kistarcsa aufbauen. Er wusste nicht, dass er es für seinen Sohn aufbauen wird. … Aber Judit, wirst du mit diesem Interview kein Problem an der Universität haben?“


2.8. Der Sozialismus in Ungarn und die Wende im Spiegel einer alltäglichen Lebensgeschichte

Über die historischen Umbrüche und die persönlichen Veränderungen haben wir eine Bekannte gefragt. Sie ist 1940 in Debrecen geboren, wo sie ihre Jugend verbracht hat. 1963 hat sie geheiratet und ist nach Som, einem kleinen Dorf im Bezirk Somogy, gezogen. Seitdem wohnt sie dort und ist inzwischen pensioniert. Sie hat einen Sohn und eine Tochter, die bereits über 30 sind.
Sie erzählt über vier große Themen: über die Jahre 1947, 1956, 1990, die wichtigsten Jahre in der neueren Geschichte Ungarns, die auch ihr Leben notwendigerweise beeinflusst haben. Zusätzlich spricht sie über 1963, ein Jahr, das ausschließlich persönliche Veränderungen in ihr Leben gebracht hat.

Sie waren 4 Jahre alt, als der zweite Weltkrieg vorbei war, welche Erinnerungen haben Sie an diese Zeit?
In der Stadt Debrecen haben wir das Ende des Krieges und die darauf folgende Zeit unter sehr schwierigen Umständen verbracht. Selbst wenn wir Geld gehabt hätten, hätten wir kein Essen kaufen können, aber meine Familie hatte kein Geld. Meine Mutter und mein Großvater mussten arbeiten, und sie haben die wöchentlichen „mill-und billpengõ“11 nach Hause gebracht, damit sind sie gleich auf den Markt gerannt, um etwas Maismehl zu kaufen, das oft schlecht war. Das war unser Essen für die ganze Woche und stinkendes, faules Öl. So ging es viele Monate lang. Erst 1947 gab es wieder richtiges Essen. Als ich im Jahre 1946 in die erste Klasse der Grundschule kam, hatten wir immer noch kein Brot gesehen. Es gab kein Obst, keine Milch, nichts. Die Kinder waren alle so unterernährt. Also, aus der Perspektive eines Kindes betrachtet, waren es sehr schwere Zeiten. Mein Vater ist im Jahre 1948 aus der Kriegsgefangenschaft nach Hause gekommen. Danach ist unsere Lage allmählich besser geworden. Eigentlich deswegen, weil auch er für die Familie gearbeitet hat. Na ja, er hat gearbeitet, wo es ihm erlaubt worden ist. Man hat ihm nämlich immer wieder dieselben Fragen gestellt: Warum war er in Kriegsgefangenschaft, warum war er an der Front usw., wobei diese Fragen von solchen Leuten gestellt worden sind, die vielleicht nie an der Front waren, die nicht erleiden mussten, was mein Vater erleiden musste. Dann hat er überall gearbeitet, aber nicht als Kaufmann, was er eigentlich von Beruf war, sondern er hat meist in der Landwirtschaft gearbeitet, wo man ihn mit Naturalien bezahlt hat. So hatten wir wieder normales Essen. Wir konnten auch Nutzvieh halten, und den Weizen haben wir gemahlen, und so hatten wir Mehl. Meine Mutter hat in Schichtarbeit in einer Fabrik gearbeitet, um uns besser ernähren zu können. Und dann – ich erinnere mich – als der Forint eingeführt wurde, ging es uns viel besser. Wir haben von da an eindeutig besser gelebt.

Welche Veränderungen haben Sie konkret in der Stadt erlebt? Wie sah sie aus nach dem Krieg?
In der Stadt? Also, ich war in Debrecen und eine Zeit lang auch in Békéscsaba. Überall habe ich ganze Stadteile gesehen, die von Bomben zerstört worden waren. Mein Großvater hat an der Eisenbahnstation gewohnt, dort sind ganze Straßen verschwunden. Vor und hinter das Haus fiel je eine Bombe, aber sie sind glücklicherweise am Leben geblieben, weil gerade jener Teil des Hauses heil geblieben ist, wo er und meine Großmutter sich zur Zeit der Bombardierung aufgehalten haben.
Der Wiederaufbau ging dann riesig schnell voran. In diesen Zeiten war es gut, dass jeder gleich arm war. In der Schule gab es sowas nicht, dass jemand ein schöneres Kleid hatte als der andere. Jeder war hungrig und arm, aber wir haben uns mit der Zeit an diese außerordentlichen Umstände angepasst. Als ich mein Zeugnis aus der Schule nach Hause gebracht habe, habe ich für meine ausgezeichneten Leistungen 50 Fillér12 bekommen, um mir ein einziges Stollwerk-Bonbon zu kaufen. Das und Ähnliches haben wir damals für ein ausgezeichnetes Zeugnis erhalten, kein Fahrrad oder so was, wie es heute üblich ist.

Dann als nächstes Thema die Revolution im Jahre 1956. Wie haben Sie dieses Ereignis erlebt?
1956 habe ich bereits die zweite Klasse des Gymnasiums in Debrecen besucht. Zuerst haben wir nur wirre Nachrichten darüber erhalten, was im Kommen ist. Wir wussten aber nichts Konkretes. Am 23. Oktober sind zwei Medizinstudenten zu uns in die Schule gekommen und haben eine Versammlung in unserer Turnhalle abgehalten. Dort haben wir erfahren, dass die Ereignisse in Budapest eigentlich schon begonnen haben und die Revolution im Land ausgebrochen ist. Dann haben sie uns zu einer Demonstration eingeladen. Die große Menschenmasse ist vor unserer Schule vorbeigezogen und wir haben uns ihnen um 14 Uhr angeschlossen. Wir sind in die größte Eisenbahnwaggon-Fabrik gegangen, wo der Sowjetstern abgehauen wurde, während wir Parolen, wie „Russen, geht nach Hause!“ und „Wir wollen Transsylvanien zurück!“, gehört haben. Wir haben diese Sachen völlig verwundert gehört, da man früher darüber nicht einmal sprechen durfte. Unter den Demonstranten waren Arbeiter, Studenten und Kinder, die diese Sätze geschrien haben. Es war deswegen später schwer zu begreifen, dass es eine Konterrevolution sein sollte, weil wir da nur einfache Arbeiter und Kinder gesehen haben. Dann ist die Masse ins Stadion gezogen, zur Versammlung. Hier fielen eigentlich die ersten Schüsse und es gab auch einige Verletzte. Als ich das Blut am Boden bemerkte, ging ich nach Hause. Ich wollte als 16jähriges Mädchen nicht so sehr in diese Ereignisse verwickelt werden. Am Abend ist die Polizeistation eingenommen worden. Auch da fielen Schüsse und es gab Tote und Verletzte wie zum Beispiel eine Frau, der in den Bauch geschossen wurde. In Debrecen findet man noch heute das Grab von denen, die an jenem Tag getötet worden sind.
Dann ist eigentlich nichts Bedeutendes mehr passiert, die Revolutionsräte sind gegründet worden, und wir sind dann ungestört wieder in die Schule gegangen. Unsere Lehrer haben das unterschiedlich erlebt. Es gab einige, die sehr begeistert von dieser Revolution waren und einige, die Angst zu haben schienen. Einer hat uns Märchen vorlesen lassen, weil ihn die Leute von der ÁVO13 wegen einer angeblichen Anstiftung verprügelt hatten. Er hat beschlossen, sich da nicht mehr einzumischen. So ging es bis zum 4. November. An diesem Tag haben wir bei Tagesanbruch Schüsse gehört. Das waren die Russen. Sie haben das Postgebäude und die Umgebung besetzt. Das staatliche Warenhaus ist in Flammen aufgegangen. Dann kamen die Nachrichten, dass Soldaten erschossen worden sind. Man wusste aber nicht, ob es wahr war oder nicht. Danach hat sich eine große Verwirrung in der Stadt verbreitet. An 15-16jährige Jungen hat man Waffen ausgeteilt, auch unser Nachbarjunge ist mit einer solchen Waffe unter seinem Mantel versteckt nach Hause gekommen. Wir haben uns die Nachrichten im Radio angehört, auch die Rede von Imre Nagy. Dann hat Kádár die Macht an sich gerissen und die Russen sind einmarschiert. Währenddessen sind wir ungestört in die Schule gegangen und haben jeden Tag die Panzer gesehen, die in der Nähe der Schule standen. Einige Lehrer, die für diese Revolution waren, sind einfach verschwunden. Dann ist alles wie gewohnt weitergegangen. Uns hat man gesagt, dass es eine Konterrevolution gewesen wäre, was wir – wenn auch unter starken Zweifeln – schließlich geglaubt haben. Die Personen, die an dieser Revolution irgendwie beteiligt waren, mussten das Land verlassen. Auch aus meiner Klasse sind einige Mädchen mit ihrer Familie ins Ausland geflüchtet.

Sie haben 1963 Debrecen verlassen. Würden Sie uns davon erzählen?
Ja, im Mai 1963 bin ich nach Som gezogen, ich habe nämlich geheiratet. Mein Mann hatte hier gewohnt. Ich weiß nicht, ob es interessant ist, aber ich habe aus jener Zeit viele Kulakengeschichten14 gehört, die ich zuerst für Märchen gehalten habe. Also, die Familie meines Mannes hat über viel Land verfügt, und der Staat hat sie völlig ruiniert. Die haben ihnen alles weggenommen, die Möbel und das Haus, alles ging in staatlichen Besitz über. Die Tiere hat man aus dem Hof hinausgeführt. Also, deswegen ist mein Mann dann nach Debrecen gekommen, weil er als Klassenfeind15 dort nicht im Gymnasium aufgenommen worden war.

War es anders, in einem Dorf zu leben?
Der Unterschied war riesig, weil ich ja in der Stadt aufgewachsen bin. Bis zu meinem 22. Lebensjahr habe ich dort gelebt. Ich wusste nicht mal, wie Weizen und Gerste aussehen oder was eine Ente und was eine Gans ist. Mit der Zeit hat mir aber diese Gegend immer mehr gefallen, vor allem wegen der immer frischen Luft. In Debrecen war die Luft fürchterlich schmutzig wegen der vielen Fabriken, und der Bahnhof war auch in unserer Nähe. Dann habe ich auch die Tiere immer mehr geliebt. Man wollte eigentlich nicht, dass ich die Arbeit um das Haus herum übernehme, aber ich habe mich daran gewöhnt. Später habe ich bei der landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft als Buchhalterin gearbeitet.

Wie hat der Systemwechsel im Jahre 1990 Ihre Arbeit beeinflusst?
Also, im Dorf hat es unsere Arbeit absolut nicht beeinflusst. Bei der LPG schon. Sie ist stärker in den Hintergrund getreten. Bis zur Wende war sie der einzige Betrieb, der die Leute beschäftigt hatte. Mit der Wende sind die Privatlandwirte von der Regierung besser gefördert und die LPG nicht mehr so wie früher unterstützt worden. Aber wir haben auch gesehen, wie schwer es die Landwirte am Anfang hatten. Die LPG hatte bereits die Maschinen und die früheren Arbeiter, die Technologie und so was. Es schien also fast, als ob die Felder der LPG besser bearbeitet gewesen wären. Aber ich habe einen Mann gekannt, der aus Budapest gekommen ist und über viel Kapital verfügt hat. Er hat einige private Betriebe gegründet. Es scheint so, dass sein Unternehmen bis heute sehr in Schwung gekommen ist. Und es wohnt hier in Som ein Agronom, der eine Schweinefarm aufgebaut hat, und – wahrscheinlich mit staatlicher Unterstützung – Maschinen gekauft hat. Man kann also sehen, dass sich nur sehr wenige Leute mit der Landwirtschaft beschäftigen. Es sind vor allem solche, die bereits von früher Maschinen hatten. Die Landwirtschaft ist also nicht sehr profitabel. Es gab eine Periode, wo es sich gelohnt hat, nämlich während des Krieges in Serbien, als der Preis für Getreide ziemlich hoch war. Aber heute deckt der Preis kaum die Betriebskosten. Ein Stadtbewohner kann sich nicht vorstellen, für wie wenig Geld jemand auf dem Land arbeitet.

Hat sich die finanzielle Lage in Ihrer Familie seit dem Systemwechsel verändert?
Es hat sich nichts daran geändert! In unserer Familie ist das Leben überhaupt nicht besser geworden. Als Beispiel nehme ich meine Tochter. Sie wollte auch ein Unternehmen gründen, aber nachdem sie alles bezahlt hat, Steuern und so, ist gar nichts mehr übrig geblieben. Also hat sie es wieder aufgegeben. Jetzt hat sie eine dreijährige Tochter, mit der die Arbeitssuche fast unmöglich ist. Bei Bewerbungen werden nämlich diejenigen bevorzugt, die keine Kinder haben, weil sie keine Problemfälle darstellen. Im Sommer hat sie am Plattensee für zwei Monate Arbeit, dann gibt's hier Winterschlaf.


2.9. Kommentare zu politischen und gesellschaftlichen Veränderungen in Ungarn

Der Titel dieser Arbeit könnte Das Leben eines Menschen16 lauten, da hier die Ereignisse des Lebens von Imre Tóth chronologisch aufeinander folgen. Das wäre aber doch kein guter Titel. In dieser Arbeit werden nämlich überwiegend die Meinungen Imre Tóths über gesellschaftliche und politische Verhältnisse wiedergegeben werden. Diese Meinungen möchte ich im Spiegel seines Lebens darstellen, also als Kommentare zu den einzelnen Lebensperioden. Entsprechend dieser Idee ist die Arbeit so aufgebaut, dass die Kommentare Imre Tóths einer kurzen Zusammenfassung der einzelnen Lebensperioden folgen. So kann man sein Leben leicht überschauen. Dabei werden nur die wichtigste Punkte seiner Biographie vorgestellt. Der ganze Text beruht auf seinen Antworten, aus denen sich seine Gedankengänge wie ein Mosaik herausbilden. Wir erfahren so etwas über die persönliche Einstellung Imre Tóths zu Politik und Gesellschaft und auch zum Leben im Allgemeinen.
Ich habe ihn als Interviewpartner gewählt, weil ich ihn für einen interessanten Menschen halte, von dem man viel lernen kann. Ich kenne ihn seit zwölf Jahren und weiß, dass er ein nachdenklicher Mensch ist, auf dessen Meinungen es sich lohnt, Acht zu geben. Als ich mit ihm dieses Interview führte, bemerkte ich, dass er sehr froh war, dass jemand auf seine Meinung neugierig war. Ich hoffe, dass ich richtig zusammenfassen kann, was er mir alles erzählt hat.

Imre Tóth ist 1963 in Gyula geboren. Sein Vater war Angestellter bei der Eisenbahn-Gesellschaft in Sarkad, seine Mutter war im Haushalt tätig. Er hat drei Geschwister. Die Familie lebte in Sarkad.

Er genoß eine religiöse Erziehung. Die Familie lebte unter sehr einfachen, ärmlichen Verhältnissen, aber auch in großer Liebe und in Frieden miteinander. Das Glück lag nicht am Kádár-Regime. Sein Vater war kein Mitglied der Partei. Seine Eltern leben heute noch dasselbe einfache Leben, wie damals. Ein Vorbild war für ihn sein Großvater, der als Kurator der Kirchengemeinde tätig war. Er ließ die Kirche in seiner Heimatgemeinde während der Rákosi-Zeit bauen. Die Männer der Partei holten ihn in der Nacht mehrmals ab, um zu versuchen, ihn vom Kirchenbau abzubringen. Sie hatten jedoch keinen Erfolg. Der Vater Imre Tóths erbte dieses Amt und war 15 Jahre Kurator der Kirchengemeinde.

Imre Tóth legte die Reifeprüfung im Gymnasium und in der Fachmittelschule für Postverkehr in Sarkad ab. Er bekam zusätzlich eine Fachausbildung für Telexbedienung. 1981 wurde er an die Universität für Religionswissenschaft in Debrecen aufgenommen. Er studierte Theologie im letzten Jahrzehnt des Kádár-Systems.

Bei seiner Entscheidung, Pastor zu werden, spielten seine Vorbilder eine bedeutende Rolle. Neben seinen Eltern und seinem Großvater gab ihm Dr. Imre Benke, ein alter Pfarrer, der schon als junger Mann Vertreter des Bischofs geworden war, ein Beispiel. Dieser weigerte sich, die Verstaatlichung des Kollegiums in Sárospatak zu unterzeichnen. Deshalb wurde er zur Strafe nach Sarkad versetzt. Dieser alte Pfarrer lehrte Imre Tóth Deutsch, Latein und Hebräisch und erzählte ihm viel über die Geschichte, z.B. über die Revolution von 1956. Imre Tóth wurde von ihm so sehr beeinflusst, dass er schon früh daran dachte, Pastor zu werden. Als Gymnasiast war er der Einzige im Gymnasium, der kein Mitglied des Verbands Kommunistischer Jugendlicher (KISZ) war. Als er 1981 für ein Theologiestudium aufgenommen wurde, ließ dies der Direktor des Gymnasiums als abschreckendes Beispiel bekannt geben.

Ab dem Sommer 1982 leistete er für anderthalb Jahre seinen Militärdienst in Lenti ab.

Im Sommer 1982 bekam er den Einberufungsbefehl. Wegen des Militärdienstes musste er sein Theologiestudium unterbrechen. Die Kaserne in Lenti war eine Bestrafung für ihn und viele andere Studenten. Das System versuchte sie von ihrer Absicht, Theologen zu werden, abzubringen. Aber fast alle von ihnen setzten ihr Theologiestudium fort. Viele Freundschaften wurden geschlossen, die für sie heute noch wichtig sind.

1988 verbrachte er acht Monate in der DDR.
Nach dem vierten Studienjahr fuhr Imre Tóth nach Deutschland, um die Spache zu lernen. Er arbeitete in einem Altersheim in Weimar, wo er auf der Pflegestation arbeitete. In seiner Freizeit besuchte er Seminare an der Jenaer Universität. Er lernte die Probleme der Ostdeutschen kennen. Er hörte nämlich oft das Wort „drüben“, mit dem die Ostdeutschen ihre Unzufriedenheit ausdrückten. Imre Tóth meint, dass auch die Ungarn sich nicht damit abfinden dürfen, dass ihr Land zergliedert wurde. Nach seiner Meinung müsste man „drüben, drüben“ in fünf Richtungen sagen. Als er aus der DDR zurück kam, war schon der Verfall des Kádár-Regims spürbar. Ab 1988 entstanden bereits neue Parteien. Die Ereignisse in Ungarn sieht er als Konsequenz der Ereignisse in der Sowjetunion (Glasnost, Perestrojka). In der KP erschienen neue Stimmen und neue Gesichter, wie z.B. Károly Grósz. Imre Tóth nahm an illegalen Sitzungen des MDFs (Forum für Ungarische Demokraten) in Gyula teil. Er sagt, dass man das Knistern, die Spannung in der Luft fühlen konnte.

1989 heiratete er Katalin Huszár. Ihr erstes Kind ist 1990 geboren. Seit 1990 leben sie in Székkutas, wo er als reformierter Pastor tätig ist.

1989 wurde Ungarn als Republik proklamiert. 1990 gab es die ersten demokratischen Wahlen nach der Wende. Imre Tóth wertet das so, dass Ungarn zum Mehrparteiensystem von 1945-48 zurückkehrte. Er erinnert sich daran, dass sich viele nicht vorstellen konnten, dass hier irgendeine Veränderung geschehen wird. Er hält es für sehr wichtig, dass die Wende 1989/1990 ohne Blutvergießen stattfand. Als Theologe zieht er Vergleiche zum babylonischen Reich. Er war sich sicher, dass die Diktatur einmal gestürzt wird, denn die Sowjetunion wurde auf mindestens sechzig Millionen Opfern aufgebaut. Ein solches System kann nicht ewig bestehen.
Er denkt allerdings, dass man bei einem Wechsel der Systeme keine scharfe Grenze ziehen kann. Die Vergangenheit lebt nämlich in den Köpfen und Seelen der Menschen weiter. Und heute noch gibt es Leute, die János Kádár ein Denkmal errichten wollen. Er bewertet die Zeit nach der Proklamation als Krisenzeit, die noch immer anhält. Bis heute ist seiner Meinung nach vielen nicht klar, was hinter uns steht (Sozialismus), und was vor uns steht (Vision der EU). Die Menschen lassen aus Nostalgie die Systeme weiterleben, woraus politisches Kapital geschlagen wird. Aber bei der Entstehung neuer Systeme hat man die Absicht, anstatt des Alten etwas Neues zum Leben zu erwecken. Als Theologe sagt er, dass der Herr der Geschichte jedem System eine Möglichkeit gibt. Das Alte wird beurteilt und abgeschlossen, aber in der Wirklichkeit ist es nur eine Phase, denn der Systemwechsel ist in den Köpfen noch nicht geschehen. Dies wird erst durch den Wechsel der Generationen geschehen, dass sich die Ansichten verändern. Das dauert eine lange Zeit. Imre Tóth meint, dass man die Aufgabe hat, die junge Generation zu lehren, woher wir kommen, was hinter uns steht. Die Jugendlichen müssten die ganze ungarische Geschichte nacherleben. Als reformierter Pastor hat er in jedem System dieselbe Aufgabe. Der Mensch kann sich natürlich ändern. Er dachte nie, dass er nach der Wende erfolgreicher wird. Er ist ein Mensch, der nicht horizontal, sondern vertikal denkt. Seine Aufgabe ist, die Leute in die Richtung Gottes zu führen. Unabhängig vom politischen System braucht man Gott. Als Pfarrer kann er kein Diener eines Systems sein. Obwohl er kein Parteienmitglied ist, hat er natürlich seine Meinung zur Politik, wobei er glaubt, dass man das Land als Ganzes betrachten muss.

Von 1990 bis 1997 nahm er am politischen Leben in seiner Heimatgemeinde als Vertreter in der Selbstverwaltung teil. Sein zweiter Sohn ist 1996 geboren, seine Tochter 2000.
Nach dem Systemwechsel fühlte er sich verpflichtet, in die lokale Politik einzutreten. Er glaubte, dass er so etwas für das Dorf tun kann. Nach 7 Jahren zog er sich aus eigenem Entschluss wieder aus der Gemeindepolitik zurück. Seit 1997 engagiert er sich für den Aufbau des Landes, aber nicht in der Parteienpolitik. Er schließt nicht aus, dass er einmal, wenn er die Möglichkeit dafür hat, für einen 4-jährigen Zyklus Volksvertreter wird. Dann sollte man seiner Meinung nach seinen Beruf aufgeben, denn man müsste das mit voller Intensität machen. Selbstkritik hält er dabei für sehr wichtig. Er würde gern den Stil der Politik verändern: sich voll und ganz für die Sache einzusetzen. Er glaubt, dass ein Politiker auf sein eigenes Privatleben ganz verzichten muss.
Er hat das Gefühl, dass das Land in die richtige Richtung geht. Imre Tóth hält es für positiv, wie die Parteien und die Politiker für die Interessen des Landes arbeiten. Man sollte aber daran denken, dass in Ungarn ca. 5 Millionen Menschen arm sind und keine Alternative haben. Er glaubt daher, dass das soziale Engagement einer Regierung ein wichtiger Faktor ist. Eine Demokratie muss das Ziel haben, das Leben der Menschen, die an der Peripherie der Gesellschaft leben, der Minderheiten, der Alten und der Kinder zu verbessern, ihnen Chance zu geben, sich selbst erhalten zu können. Wir alle haben ja nur ein einziges Leben.

Imre Tóth blickt einerseits pessimistisch, andererseits optimistisch in die Zukunft.
Nach den Ereignissen vom 11. September 2001 scheint es ihm so, dass in der Welt Kräfte am Werk sind, die das Leben, die Existenz bedrohen. Im 21. Jahrhundert türmen sich viele, viele Wolken auf in der Welt. Es wird ein Jahrhundert der Ängste und der Kriege sein. Man muss aber hoffen! Das Schicksal der Welt ist in der Hand Gottes, der der Herr der Geschichte ist, der den Systemen die Möglichkeit gibt, das Reich Gottes auf der Erde zu spiegeln. Wir sind in den Händen Gottes. Deshalb ist er optimistisch. Technische Errungenschaften lösen keines unserer Probleme, wenn unsere Seele sich nicht verändert. Die Seele muss sich verändern, damit wir die Katastrophen vermeiden können, meint er.