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Zeitung << 1/2003 << Interview mit dem Gastprofessor Siegfried Jäkel
Dort, wo meine Bücher sind, bin ich zu Hause
Interview mit dem Gastprofessor Siegfried Jäkel
Autorin: Beatrix Tóth
Herr Prof. Jäkel, das ist bestimmt nicht Ihre erste Erfahrung im Ausland als Gastprofessor.
Nein, ich war ein Jahr in Polen an der Universität Posnan. Da hatte ich auch sehr gute Erfahrungen sowohl in der Germanistik als auch in der klassischen Philologie. In der Germanistik gab es dort 700 Studenten und sie haben vom ersten Semester an die deutsche Sprache vollkommen perfekt beherrscht. Auch die polnischen Professoren gaben alle ihre Vorlesungen in einem perfekten akzentfreien Deutsch. In der ganzen Germanistik wurde nur Deutsch gehört. Vorher habe ich Gastvorträge gehalten in Amerika, in den Konta del Gara, in Südafrika, in Cape Town, in Kanada. Von Szeged bin ich allerdings begeistert. Von der Stadt sowohl, wie auch von den Menschen hier. Sowohl an der Universität als auch im Privatleben sind alle sehr freundlich. Ich steige z.B. in die Straßenbahn als alter Mann und sofort steht ein junger Mann auf und bietet mir seinen Platz an. Das ist sonst nirgends in der Welt so, das ist hier, das ist Szeged.
Warum haben Sie ausgerechnet Ungarn als Gastland gewählt?
Ich habe hier im Jahre 1986 Gastvorträge gehalten, sowohl in der Germanistik als auch in der klassischen Philologie, und die Kollegen hatte ich dann zu mir nach Finnland eingeladen, zu einem Kongress. Das ist ein Vermittlungsvertrag über den DAAD, ich bekomme hier von der Universität nur die Wohnung zur Verfügung gestellt. Das Tagesgeld bekomme ich über den DAAD vermittelt.
Wie viele Studenten nehmen an Ihrem Seminar und Ihrer Vorlesung teil?
Die ungarischen Studenten sind interessiert, aufgeschlossen und inspirierend. Ich habe heute eine Faust-Vorlesung gehalten und in meiner Vorlesung sind 27 Studenten. Assistenten und Professoren kommen in meine Vorlesung auch. Und das bringt mich dann immer wieder auf neue Gedanken. Es ist anregend auch für mich. In meinem Seminar sind es acht Studenten. Wir machen den Rosenkavalier von Strauss und von Hofmannsthals den Schwierigen.
Wie sind Ihre Eindrücke bzw. wie würden Sie die Sprachkenntnisse der ungarischen Studenten beurteilen?
Die ungarischen Studenten sprechen eigentlich ganz gut Deutsch. Viele haben in Deutschland auch gelebt oder dort studiert. Also, es sind keine schlechten Voraussetzungen für eine Zusammenarbeit in der Germanistik mit ungarischen Germanistikstudenten.
Sie leben in Finnland. Warum haben Sie Deutschland verlassen?
Seit 1973 lebe ich in Finnland, ich war vorher Professor in Deutschland in Regensburg und in der klassischen Philologie hatte ich dort eine Menge Studenten. Und am Anfang der siebziger Jahre kamen die Studenten in meine Sprechstunde und sagten: Wenn Sie das Seminar über Kosch veranstalten wollen, werden wir es boykottieren. Es sei denn, Sie machen ein Seminar über Karl Marx, dann kommen wir alle. Das war die Links-Bewegung und jeder, der ein Angebot im Ausland bekam, ist gegangen. Ich bekam ein wunderbares Angebot in Finnland und 1973 habe ich Deutschland verlassen. Das war die beste Entscheidung meines Lebens. Und in Finnland ist nie ein Student zu mir gekommen: Sie dürfen nicht Goethe machen, Sie müssen Karl Marx machen.
Ich habe gehört, dass Sie eine große Bibliothek zu Hause haben. Würden Sie mir bitte darüber etwas erzählen?
Ja, 6000 Bücher habe ich. Ich habe die gesamte deutsche Literatur vom Mittelalter bis in unsere Tage hinein und es gibt sehr viele Bücher, die man sonst in keiner anderen Bibliothek mehr finden kann. Und nun bin ich nicht mehr der jüngste, ich möchte, dass die Bibliothek zusammen bleibt irgendwo in der Welt und genutzt werden kann als Präsenzbibliothek. In Polen gründet man im Augenblick ein Insitutum Europeum, ein europäisches Institut, in der Nähe von Posnan und sie sind eventuell interessiert meine Bibliothek zu übernehmen. Ich habe gesagt, ihr kriegt meine Bücher, aber ihr müsst mich auch nehmen. Ich muss ein Zimmer haben, einen E-Mail Anschluss und einen Computeranschluss, so dass ich dort leben kann, mit meinen Büchern. Ich bin nämlich in Schlesien geboren 1929, und 1945 war ich sechzehn Jahre alt, als die Polen und die Russen kamen und wir weg mussten. Wir haben alles verloren. Seit dieser Zeit habe ich keine geographische Heimat mehr. Ich bin überall in der Welt nur noch als Gast. Aber ich habe mir eine neue Heimat geschaffen: meine Bibliothek. Dort, wo meine Bücher sind, bin ich zu Hause. Ein griechischer Philosoph, Seneca, hat einmal gesagt: „Omnia mea mecum porto” (Alles, was ich besitze, trag ich bei mir). Das kann mir niemand nehmen. Alles kann mir genommen werden, aber das, was mir gehört, mein Geist, mein Denken, das kann mir niemand nehmen. Das wird immer da sein. Dazu lebe ich eben auch. In vielen Ländern habe ich gelebt, überall habe ich mich wohl gefühlt, weil es überall eine Bibliothek gab, weil es Kollegen gab, mit denen man diskutieren konnte.
Wie sehen Ihre Pläne aus? Wie lange planen Sie in Szeged zu bleiben?
Ich bin hier bis Ende Juni. Gute zwei Monate bin ich noch hier und werde auch die Prüfungen abhalten. Und ich habe noch einige Gastvorträge angeboten. Dem Kollegen Bernáth habe ich drei Themen zu Gastvorträgen vorgeschlagen, die werde ich wahrscheinlich noch irgendwann hier halten. Bei uns in Finnland plane ich ein Sommersymposium für das Jahr 2005 zum Thema „Ideologie und Wissenschaft im zwanzigsten Jahrhundert in allen Ländern Europas“, und da wäre auch Ungarn interessant.
Ich danke Ihnen für das Interview!
Gern geschehen. Es war mir ein Vergnügen.
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