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Zeitung << 1/2003 << Buchtipp 2: Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin


Buchtipp 2: Elfriede Jelinek: Die Klavierspielerin
“Wenn man nicht lebt, kommt man ins Gefängnis…”
Das Leben als Pflicht

Autorin: Szilvia Gál

Erika Kohut ist Ende dreißig. Sie lebt zusammen seit dem Tod des Vaters mit ihrer Mutter in einer Wohnung und einem Bett (im Ehebett) und hat mit ihr ein Verhältnis, das sie aneinander bindet und das man als Hassliebe bezeichnen kann. Erika Kohut liebt Schubert und Brahms, sie ist eine anerkannte Klavierlehrerin und Klavierprofessorin am Wiener Konservatorium, emotional aber ist sie im Stadium eines Kleinkindes. Erikas Mutter hat eine enge Beziehung zu ihrer Tochter: nach dem Unterricht muss die Klavierlehrerin sofort nach Hause gehen, weil es die Mama von ihr erwartet.
Ihre verbitterte Mutter achtet eifersüchtig auf alles, was die isolierte Zweisamkeit mit ihrer Tochter gefährden könnte. Sie will in jeder Sekunde ihres Lebens wissen, wo sich die Tochter aufhält, was sie tut und mit wem sie sich beschäftigt. Deshalb will sie nicht, dass Erika sich modisch kleidet. Sie trägt immer dasselbe unauffällige, reizlose Ensemble aus Rock und Bluse in gedeckten Farben, passend zum ungeschminkten Gesicht, den altjüngferlich hochgesteckten Haaren und den Schuhen mit flachen Absätzen.
Ein weiteres wichtiges Thema, das sich in den Vordergrund drängt, ist das Problem der Sexualität. Sex kommt für sie nicht in Frage. Erika lernt zwar Männer kennen, mit denen sie auch sexuelle Beziehungen aufnimmt, diese Beziehungen scheitern aber immer wieder an Erikas Unfähigkeit, sich selbst und ihre Lust zu erleben. Dafür geht sie manchmal in Pornoshops und in Peep-Shows. Frau Kohut verstümmelt sich und beobachtet andere beim Beischlaf; an solchen Tätigkeiten ergötzt sie sich. Erika ist selbst ein Schicksal.
Die Klavierspielerin ist eine sadomasochistische Persönlichkeit, demütigt ihre Schüler und sieht sie für Konkurrenten an. Aber Erika verliebt sich eines Tages in einen Schüler namens Walter Klemmerer. Sie sehnt sich nach der Liebe des Technikstudenten, ist aber außerstande diese Liebe auf sexueller Ebene umzusetzen.
Mit ihm, denkt sie, hat sie die Kraft, die sie braucht, um die Grenze zu überschreiten. Die Spielregeln will ausschließlich der Hass diktieren. Aber das Spiel misslingt, muss misslingen. Walter Klemmer kann nicht nach ihren Regeln spielen.
Am Ende bleibt Erika nur die Gewalt, die sie erfahren hat, an sich selbst zu übertrumpfen. Mit einem Messer. Nur so kann sie noch einmal nach Hause gehen.
Erika Kohut verliebt sich und kann die Liebe nicht leben. Erika Kohut lebt überhaupt nicht - das ist ihr Verbrechen. Dafür wird man bestraft, man kommt in ein neurotisches und dabei kleinbürgerliches Gefängnis, das diese Mutter-Tochter-Beziehung darstellt.
Eine Gefangene in sich selbst; so sieht Elfriede Jelinek die Hauptfigur ihres Romans Die Klavierspielerin aus dem Jahr 1983.
Die Autorin selbst bezeichnet ihren Roman als einen konventionellen, realistischen. Das Ereignis, das dem Roman zugrunde liegt, diese neurotische Mutter-Tochter-Beziehung, ist ein Spiegel der Wahrheit, psychologischer Realismus. Worüber Jelinek schreibt, ist die Auflösung der Beziehungen zwischen den Geschlechtern. Diese Beziehungen sind gerade dadurch gekennzeichnet, dass sie nicht mehr existieren können. “Die Klavierspielerin” ist ein schonungsloses Drama, das von der Anlage seiner Hauptfigur lebt.
Im Nachwort zur Neuauflage ihres Romans schreibt Elfriede Jelinek über ihre Heldin: “Ausreden fürs ungelebte Leben gibt es nicht”. “Menschen, die nicht leben könnten, schreibt sie, “würden vom Leben wieder ausgespuckt, oder sie schmeißen sich gleich selbst weg, sind Abfälle”. Und: “Wenn man nicht lebt, kommt man ins Gefängnis, das man dann zur Strafe auch noch selber sein muss.”
Mit der Verfilmung durch Michael Haneke ist der Roman 2001 erneut ins Publikumsinteresse gerückt.