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Zeitung << 2/2003 << Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Müller-Funk


Kultur ist überall drin
Interview mit Prof. Dr. Wolfgang Müller-Funk

Autorinnen: Szilvia Gál, Erika Torony

Sie waren Gastprofessor an vielen Universitäten in ganz Europa. Wie kamen Sie zur Idee hier in Szeged zu unterrichten? Waren Sie schon früher in Ungarn?
Ich kannte die Universität Szeged durch den Dozenten Dr. Endre Hárs. Außerdem betreue ich seit 2000 ein Forschungsprojekt und ich habe mich unter kulturwissenschaftlichen Gesichtspunkten mit der Geschichte der Monarchie von 1876-1918 beschäftigt, und in diesem Zusammenhang begann ich mich intensiver mit diesem Zeitraum, aber auch mit der ungarischen Geschichte und Kulturgeschichte zu beschäftigen. Und es gab die Möglichkeit, im Anschluss an dieses Forschungsprojekt einmal auch in Ungarn zu unterrichten. Ich hatte bisher in Ungarn nicht unterrichtet, aber ich kannte Ungarn sozusagen als ganz normaler Tourist natürlich. Ich kannte Ungarn auch akademisch dadurch, dass wir mehrere Veranstaltungen, internationale Symposien seit 2000 durchgeführt haben. Ich habe sogar in meiner Studienzeit, weil ich so gern nach Ungarn gefahren bin, angefangen ein Semester Ungarisch zu studieren, aber ich muss zugeben, ich habe fast alles vergessen.

Die meisten Studenten wissen sehr wenig darüber, was Kulturwissenschaft bedeutet und wovon diese Wissenschaft handelt. Es ist ziemlich neu bei uns. Oder anders formuliert: Ist es nur bei uns eine Neuigkeit?
Das ist sehr verschieden. Es gibt verschiedene Diskursgeschichten über die Kulturwissenschaften. Sie ist im angelsächsischen Raum in den 60er Jahren entstanden. Ich habe auch in Birmingham unterrichtet, das als Wiege der culture studies gilt. Kulturwissenschaften ist etwas Transdisziplinäres. So wie es ein „linguistikturn“ in der Germanistik gibt, gibt es ein „medienturn“ oder „cultureturn“ d.h. eine andere Fokussierung: Man merkt, wie wichtig Medien sind, wie wichtig Kultur heute für die Identität von Menschen ist. Man kann sich die Fragen stellen: Was für eine Bedeutung hat die Literatur für Identität? Was für ein Medium ist Literatur? Kulturwissenschaften sind immer dann von Interesse, wenn es kulturelle Veränderungen gibt. Ich möchte vier Punkte nennen: Das eine ist der Wandel im Medialbereich. Wir schreiben nicht mehr nur Bücher, sondern Literatur ist ein Medium unter einer stark medialisierten Welt. Wir haben die Globalisierung, und wir haben auch in der Gesellschaft selber einen sehr starken internen Wandel. Denken wir nur zum Beispiel an den Feindruck der Geschlechterverhältnisse. Es ist eine dramatische Kultur, es ist nicht einfach ein sozialer Wandel, sondern es geht um Wandel von Bildern, von Selbstbildern, von Fremdbildern, von Männern und von Frauen zum Beispiel. Es gibt drei dramatische Dinge, wo Kultur eine wichtige Rolle spielt. Die englischen Sprachen in der Kulturwissenschaft, wo man einen Kulturbegriff hat, der sehr stark die Kultur als Prozess und nicht nur als Produkt sieht. Man kann natürlich nicht Kulturwissenschaft ohne Produkte, wie Literatur oder Film oder Medien oder Alltagsprodukte, Kulturprodukte sehen. Aber das Prozessuale steht stark im Mittelpunkt. Dieser Kulturbegriff, wie ihn z.B. Raymond Williams geprägt hat, ist ein Mittlerer, d.h. Kultur ist zwar nicht alles, aber Kultur ist überall drin. Kulturwissenschaft ist nicht etwas anderes, seine andere Form ist auch die Literaturwissenschaft.

Wie entwickelt sich die Kulturwissenschaft? Woher stammt sie?
Es kommt aus Birmingham. Das ist eine Wurzel. Da war es vor allem die Veränderung, das Ende der Arbeiterkultur, es entsteht die Populärkultur, und die Popkultur hat uns alle sehr verändert. Dann die Kultur der Einwanderer, diese Interkulturalität, die Globalisierung, der ökonomische Aspekt, es passiert international. Das ist vielleicht eine Welt, in die Länder wie Ungarn oder Tschechien oder die Slowakei hineinwachsen. Aber es ist heute nicht ganz wie in Birmingham, weil die 15 % Menschen, die mit anderen hier kämpfen, die prägten natürlich, verändern natürlich auch die Identität. Das macht doch Angst und das ist interessant auch zu reflektieren. Es ist eine Herkunftsgeschichte.
Die andere ist Deutschland. Da haben vor allem die Themen Gedächtnis und Erinnerung eine Rolle gespielt. Kulturen halten sich dadurch, dass sie ein kulturelles Gedächtnis haben, und Deutschland auf unsere spezielle Geschichte im gewissen Grad auf Österreich. Ich habe mich lange mit seiner gebrochenen Identität beschäftigt, mit der Geschichte des dritten Reiches: Wie soll man und wie kann man daran erinnern. Das Thema Gedächtnis der Erinnerung hat seit den 90er Jahren eine ganz große Rolle in Deutschland gespielt, und das ist sozusagen zum Kern, zum Ausgangspunkt dieser neuen Kulturwissenschaften in Deutschland geworden. In Frankreich spielt auch die Semiotik durch Theoretiker wie Foucault, die man mit ähnlichen Methoden betrachtet, wie man literarische Texte interpretiert, eine große Rolle. Was mich in Szeged auch interessiert hat, ist, dass Szeged eine sehr starke semiotische Tradition in der Literaturwissenschaft hat. Und die Semiotik ist ein sehr interessanter Anschlussweg in den Kulturwissenschaften.

Wie haben Sie sich bei uns gefühlt? Wie sind Ihre Eindrücke von den Studenten, von ihren Sprachkenntnissen, von ihrem Wissen? Wie finden Sie die ungarischen Germanistikstudenten?
Ich hatte den Eindruck, dass eine prächtige Anzahl von Studenten und Studentinnen sehr gut vorbereitet sind, die sich sehr stark interessieren und die auch wissen, was sie wollen, sehr ehrgeizig sind und Ambitionen haben. Die Sprachkenntnisse finde ich auch sehr gut, und der Unterricht ist in Gymnasien augenscheinlich sehr, sehr gut. Doch die einzige Schwierigkeit mit den ungarischen Studenten ist meiner Meinung nach, dass es schwer ist, sie zum Diskutieren zu bringen. Es ist vielleicht der Fehler des Schulsystems. Ich halte Diskutieren nicht für eine formale Geschichte, sondern es füllt für mich zwei wichtige Funktionen ein: Erstens die demokratische Funktion, das Prinzip der Kritik, die ein wichtiges Element der Demokratie ist. Zweitens hat es einen wichtigen Lehreffekt. Man wiederholt mit anderen Worten, was man sagen will. Aber es geht natürlich nicht von einem Tag auf den anderen.

Wie war Ihre Beziehung zu den Studenten und zu den Dozenten?
Ein Vorteil dieser Gastprofessur war, dass ich auf Grund dieses persönlichen Kontaktes zu Dr. Hárs, auch schon die anderen Kollegen gekannt habe. Ich kam nicht als fremd und ich konnte sofort anfangen zu unterrichten, wir konnten uns gut vorbereiten. Mein Kontakt zu den Studenten und Studentinnen war nicht nur korrekt, sondern auch gut, und persönlich habe ich mich ungeheuer wohl gefühlt. Es hat mir sehr gut gefallen, ich habe es nicht bereut nach Szeged zu kommen.

Gibt es einen Unterschied zwischen den ungarischen und den muttersprachlichen Germanistikstudenten?
Der Unterschied ist strukturell. Die Situation, an einem Germanistikinstitut in Ungarn, Rumänien, in England oder in Dänemark zu unterrichten, ist immer eine interkulturelle Situation. Die Mentalität der Österreicher und Ungarn ist nicht besonders originell, nicht so weit voneinander, viel näher als die sprachliche Verschiedenheit. Es gibt auch kulturelle Unterschiede. Die Deutschen sind, es ist nicht nur ein Klischee, sehr redefreudig, und sie fangen sofort an zu diskutieren. In diesem mitteleuropäischen Raum ist irgendwie etwas anderes organisiert, aber es hat sich geändert. Es ist hier natürlich alles ein bisschen bescheiden. Ich empfinde es nicht unangenehm. Es ist hier bescheidener, ruhiger, aber man arbeitet trotzdem sehr effizient. In den englischen Universitäten hat jeder Student an der Uni einen Internetzugang. Hier ist diese Situation völlig anders, wo vier Dozenten einen Computer haben oder mit dem Papier sparen müssen. Aber mit bescheidenen Mitteln kann man auch gut lehren und forschen.

Woran arbeiten Sie jetzt? Welche Pläne haben Sie in der Zukunft?
Das erwähnte Forschungsprojekt wird weitergehen, natürlich auch mit ungarischen Kollegen und Kolleginnen. Wir sind sehr stolz darauf, dass wir ein Forschungsprojekt haben, das von Österreich finanziert wird, an dem aber Forscher und Forscherinnen aus dem zentralen europäischen Raum teilnehmen. Speziell natürlich aus Ungarn. Ich schreibe eine Einführung in die Kulturtheorie, und ich bin noch beteiligt an einem gemeinsamen einführenden Band in die Kulturwissenschaft. Diese drei Dinge habe ich mir geplant, und ich habe auch andere Pläne, was Bücher usw. betrifft, und in dem Bereich Literaturwissenschaft, also Klassik, Romantik, Moderne weiterpublizieren.

Werden wir Sie ein anderes Mal hier an der Uni als Gastprofessor begrüßen können?
Es hängt nicht von mir ab, sondern von vielen Dingen. Es ist nicht personalisiert, aber ich kann mir vorstellen, in einem späteren Zeitpunkt noch einmal hier zu unterrichten.

Haben Sie unsere Studentenzeitung GeMa gelesen? Wie hat es Ihnen gefallen?
Natürlich. Ich finde solche Aktivitäten, dass Studenten Zeitung machen, ungemein wichtig. Ich finde auch solche Dinge wie z.B. Studententheater, Radio usw. auch wichtig. Weil es einerseits Spaß macht, etwas Praktisches zu machen, und andererseits, weil man dann nicht nur über Medien auf theoretischer Ebene diskutiert, sondern selber Medien gestaltet.

Herr Prof. Müller-Funk, ich danke Ihnen für das Interview.