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Zeitung << 2/2003 << Nichts Besonderes


Nichts Besonderes
Eine Kurzgeschichte

Autor: István Soós

Es gibt Dinge im alltäglichen Leben, die wir kaum oder gar nicht bemerken. Diese Kleinigkeiten können sich sehr leicht vergrößern. Man braucht nicht viel dazu. Ein wenig schlechte Laune tut es auch. Es ist nichts Besonderes geschehen an dem bestimmten Tag. Ich wachte auf, bevor mein Wecker klingelte, den ich auf halb sieben eingestellt hatte. Ich möchte gern aufstehen, aber irgendeine innere oder biologische Uhr – obwohl die eher bei den Frauen tickt – lässt mich zehn Minuten vor dem Klingeln, sozusagen erwachen. Ich will ihn ausschalten, aber mit meinen verklebten Augen kann ich kaum was sehen. So, jetzt habe ich’s! In solchen Momenten denke ich nach, warum zum Teufel ich ihn einstelle, wenn ich immer vorher aufstehe. Danach kommt natürlich der Gedanke „Was-wenn-ich-doch-nicht” auf, und die Uhr erhält wieder ihre Aufgabe.
Ich fange also mit meinen kleinen, morgendlichen Zeremonien an. Yoga! Es heilt Körper und Seele gleichermaßen. Na ja, wenn es ordentlich und regelmäßig geübt wird. Bei mir zählt der Wille. Duschen, Kleidung, Frühstück, Zähneputzen, usw.
Als ich aus dem „schönen” Blockhaus trete, schlägt mir die kalte Luft sofort ins Gesicht. Ein wenig bin ich überrascht, aber ich bleibe nicht stehen. Warum sollte ich auch, ich bin doch nicht blöd. Ich muss mich beeilen, habe keine Zeit den wunderschönen grauen Nebel zu bewundern. Er ist noch dick, aber man sieht ihm schon an, dass er sich zerteilt. Er weiß: Heute werden wir einen sonnigen Tag haben!
Ich springe in den Bus. Der Chauffeur möchte meinen Ausweis sehen. Er ist in meiner Hosentasche, aber ich kann ihn nur mit Mühe herausnehmen. Ich habe nämlich Handschuhe an, solche mit zwei Fingern. Als ich ihn endlich vorzeige, werde ich von Zufriedenheit erfüllt. Hah! Ich habe gewonnen! Das hättest du nicht gedacht, was? Ich hab’s dir aber gezeigt, mit wem du es zu tun hast! Ich setze mich hin und vergesse das Ganze. Entweder möchten sie ihn sehen oder auch nicht. Der da wollte es! Erste Haltestelle. Ein paar Leute steigen ein. Gewöhnliche, alltägliche Menschen, genau wie ich. Sie sind müde, unausgeschlafen und grau, genau wie ich. Ich reibe einen kleinen Kreis auf dem dunstigen Fenster, um hinauszugucken. Ich will nicht die Menschen ansehen. Sie sind so traurig, genau wie ich. Zweite Haltestelle. Die gleichen Leute. Interessanterweise dürfen sie hinten einsteigen. Was geht hier vor? Sind sie etwa Auserwählte? Um ehrlich zu sein, ist es mir scheißegal, es interessiert mich nicht. Vor mir sitzt niemand. Anscheinend möchten sie alle stehen bleiben. Ich schaue nach draußen und mache den Kreis größer. Alle laufen im Mantel hin und her. Einer möchte den Bus erreichen, der andere spaziert nur so herum mit seinem Hund, der einen rosa Pulli trägt. Was soll ich dazu sagen? Armer Hund.
Ich drehe mich zurück und stelle fest, dass jemand sich hinsetzte. Dessen ungeachtet, dass ich ein bizarres Gesicht habe. Meine Haare sind völlig zerzaust und mein Blick ist auch nicht gerade Vertrauen erweckend. Die Dame ist zirka 60-65 Jahre alt, grauhaarig, trägt eine Brille und… und… ist bärtig. Im Ernst! Ich wollte nie wieder hinsehen. Oh, Shit!, dachte ich mir. Ich habe doch hingeschaut. Ich weiß, es klingt blöd, aber ich habe die Haare gezählt. Natürlich so, dass sie nichts davon bemerkt. 16 Stück! 16 Stück, 5 cm lange… Aaa! Ich will nicht daran denken. Wir fuhren von Haltestelle zur Haltestelle, und ich habe mich mit der Lage schon befreundet, als die Omi anfing zu schnupfen. Sie hat sich bestimmt erkältet. Wir haben doch Ende Herbst, Anfang Winter. Zu dieser Zeit hat jeder dritte Mensch Schnupfen. Ich stellte mir vor, wie sie in ihre schwarze Handtasche greift und zwischen den Ausweisen und Medikamenten ein Papierhandtuch findet und sich schnäuzt. Aber sie schnupft weiter. Wir sitzen einander gegenüber. Obwohl das Fenster völlig dunstig ist, schaut sie unerschütterlich nach draußen. Ich schaue sie an. Warum? Das ist eine gute Frage! Ich könnte mir eine wunderschöne Frau suchen. Aber nein! Ich bin vielleicht zu müde dafür, um mich herumzudrehen, oder ich warte so sehr auf den Moment, wenn sie ihre Nase putzt, dass ich es auf gar keinen Fall verpassen möchte. Sie bewegt sich! Endlich, sie wird jetzt dieses kleine Papierstück benutzen, das uns beide von unseren Qualen befreit. Mein Gehirn pulsiert nämlich so heftig wie noch nie im Leben.
Nein, nichts, es passiert nichts!, wird mir bewusst. Sie hat sich nur ein wenig gerührt. Es kann sein, dass sie vielleicht bei der nächsten Haltestelle aussteigt. Das war meine letzte Zuflucht. Nur die Ruhe, relax!, sagte ich zu mir. Ich wartete. Die Haltestelle ist immer nähergekommen, meine Handfläche schwitzte und ich fing an zu beten, auf meiner Art, aber sehr intensiv. Und siehe an, ein Wunder ist geschehen! Die Omi steht auf. Ich fühlte eine unbeschreibliche Freude. Sie stand neben mir, denn ich saß bei der Tür. Sie schnupfte genauso weiter und war immer noch so bärtig wie vorher, aber das zählte nicht mehr. Mein Albtraum bekam ein Ende. Ja, ein Ende! Ich drehte mich nach vorne, hörte, wie die Türen hinter mir geöffnet wurden, dann schlossen sie sich wieder und wir fuhren weiter.
Plötzlich hörte ich ein merkwürdiges Geräusch hinter mir. Schmatzen! Als würde jemand einen Kaugummi kauen. Ohne Kaugummi. Ich schaute hin. Dann, in dem Augenblick zerriss in mir etwas. In meiner Seele, in meinen Gedanken.
Sie stand dort! Schnupfen, Schmatzen, Bart. In dieser Reihenfolge. Noch immer! Sie ist nicht ausgestiegen. Der reine Wahnsinn! Dieser Anblick traf mich so hart, dass ich am liebsten weinen wollte. Ich stand auf. Ich werde aussteigen, ich muss aussteigen! Ich stellte mich neben sie. Schnupfen, Schmatzen, Bart. Mein rechtes Auge bewegte sich ein wenig merkwürdig, es war nicht absichtlich.
Von nun an beschleunigten sich die Geschehnisse. Bus hält an. Alte Dame hinaus, ich ebenfalls. Sie nach rechts, ich automatisch nach links. Eile! Was für eine! Als ich den Széchenyi-Platz entdeckte, bin ich hingelaufen. Ich habe alles von meiner aufgesammelten Wut hinausgelassen. Ich fiel auf die Knie und schrie. Es war ein kurzer, aber sehr kraftvoller und lauter Schrei. Ich stand auf und setzte meinen Weg zur Uni fort. Wie ich’s am Anfang sagte: Es ist nichts Besonderes geschehen.