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Zeitung << 2/2004 << GeMa-Gespräch mit Herrn Prof. Dr. Árpád Bernáth


Eine neue Aufsatzsammlung für Germanistikstudenten
GeMa-Gespräch mit Herrn Prof. Dr. Árpád Bernáth

Autorin: Györgyi Turóczi

Ein wunderbares neues Buch ziert das Schaufenster des Buchgeschäfts Universum in Szeged im Dezember 2004, das im Grimm Verlag in Szeged erschienen ist. Der Verfasser ist unser Institutsleiter Prof. Dr. Árpád Bernáth. Wie dem Inhaltsverzeichnis entnommen werden kann, geht es hier um eine umfangreiche und auch lehrreiche Aufsatzsammlung. Große Autoren mit berühmten Werken und fruchtbaren Fragestellungen werden sowohl aus dem Bereich der Literatur als auch aus dem der Sprachwissenschaften behandelt. Prof. Bernáth dient uns Germanistikstudenten als Vorbild, viele möchten in seine Fußstapfen treten. Wie dieses Buch zustande gekommen ist und wie Árpád Bernáth als Autor arbeitet, erzählt unser Professor im folgenden Gespräch.

Was für ein Ziel hatten Sie vor Augen, als Sie begannen an diesem Buch zu arbeiten?
Das ist kein Buch in dem Sinne, dass es nur ein einziges Thema hätte, sondern eine Aufsatzsammlung. Es umfasst Arbeiten, die ich von den 1960er Jahren bis 2002 geschrieben habe. Es enthält nicht alle meine deutschsprachigen Aufsätze, sondern nur diejenigen, die in einem anderen Zusammenhang nicht mehr ausführlich behandelt werden sollen. Das war mein Auswahlprinzip.

Was war der Grund dafür, dass Sie dieses Buch veröffentlichen wollten?
Der erste Grund für die Buchpublikation war, dass die meisten dieser Aufsätze ursprünglich in Sammelbänden oder in Zeitschriften in Deutschland erschienen sind. So sind sie hier in Szeged schwer zugänglich. Ich spreche über die Themen meiner Forschungsarbeiten oft in meinen Lehrveranstaltungen, oder sie dienen als Hintergrund des eben Behandelten. Darum habe ich daran gedacht, dass es für die Studierenden von Vorteil sein könnte, wenn sie diese Arbeiten auch in die Hand nehmen und etwas auch „schwarz auf weiß“ von ihrem Universitätsstudium in Szeged mitnehmen könnten. Deshalb habe ich mich entschlossen, mit Hilfe von Frau Annamária Gyurácz einen Band aus meinen Arbeiten zusammenzustellen.

Warum haben Sie eben diese Werke und Autoren zur Analyse ausgewählt?
Die Auswahl dokumentiert meine Hauptforschungsgebiete. Der erste Abschnitt (Aufsätze zur Literaturtheorie) zeigt zugleich mein zentrales Interesse. Ich habe mich bereits als Student mit theoretischen Fragen der Literaturwissenschaft beschäftigt. Mein theoretisches Interesse war und blieb aber immer der Praxis zugewandt: Welche Fragen sollen wir stellen, damit sich das literarische Kunstwerk uns als eine besondere Weise der Erkenntnis möglicher Verhaltensweisen des Menschen zeigt? Ich wollte diese ethische Fragestellung in verschiedenen Epochen der Literatur der Prüfung unterziehen. Ich wählte immer auch eine zentrale Gestalt einer Epoche aus, so in der deutschen Literatur Johann Wolfgang von Goethe, Hermann Broch und Heinrich Böll. Die Aufsätze zu Werken dieser Autoren befinden sich im ersten Teil des zweiten Abschnittes. Ich wollte übrigens als Student nicht im Bereich der Germanistik arbeiten. Mein Lieblingsfach war im Gymnasium die ungarische Literatur. Im Zentrum stand damals für mich János Arany, auch als Dichter nach einer gescheiterten Revolution. Ich kam an die Uni mit dem Plan, über Dezsõ Kosztolányi „ein großes Buch zu schreiben“ und die Epoche der „Nyugatosok“ zu studieren. Zwischen 1960 und 1965 war das freilich nicht möglich, dieses Thema wurde von meinem Professor Pál Pándi regelrecht abgewiesen. Diese Begrenzung habe ich im Fach Germanistik nicht erfahren, so wandte ich mich der deutschen Literatur zu. Das Ergebnis war zunächst eine Stelle in der Institutsbibliothek, aber es blieb natürlich auch das Interesse für die ungarische Literatur. Die Arbeiten zu Sándor Petõfi, Lajos Kassák, Péter Nádas und Péter Esterházy, die jetzt den zweiten Teil des zweiten Abschnittes im Buch bilden, legen ein Zeugnis davon ab. In verschiedenen Bereichen zu arbeiten fördert die Erkenntnisfähigkeit und die Kreativität. Ich kann den Studierenden nur empfehlen, gleichzeitig mehrere Fächer zu studieren. Es ist auch gut, sich in eine andere Gattung der Kunst zu vertiefen, sei es Musik oder Malerei, oder auch in eine andere Denkweise, sei es Mathematik, Logik oder Chemie. Anspruchsvolle Studenten sollten vom vollen Angebot der Universität schöpfen, von der theoretischen Physik bis zur Ökonomie oder Rechtswissenschaft.

Ich habe festgestellt, dass manche Themen Ihres Buches sowohl die ungarischen als auch die deutschen Leser ansprechen können. Was meinen Sie, was sind die gemeinsamen Probleme und Gedanken, die sowohl bei den Ungarn als auch bei den Deutschen für eine Diskussion geeignet sind?
Literatur ist einerseits an eine Einzelsprache gebunden. Übersetzungen sind schon modifizierte Werke. Darum dürfen wir, wenn wir schon die deutsche Sprache mehr oder weniger beherrschen, und wenn wir sie mehr beherrschen wollen, deutschsprachige Literatur nur auf Deutsch lesen. Wir möchten in der Regel doch das Original vom Autor kennen lernen, und nicht eine Mutation, die durch die Übersetzung entstanden ist. Doch hat die Übersetzung ihre Funktion. Da große Literatur immer auch eine besondere Weise der Erkenntnis über die Möglichkeiten der moralischen Haltungen des Menschen unter gegebenen Bedingungen ist, fallen die Antworten der Autoren über diese Möglichkeiten oft auch bedingungsspezifisch aus. Die unterschiedlichen Annäherungen zu dieser Problematik, die zwischen der Tragödie „Faust“ von Goethe und „Die Tragödie des Menschen“ von Imre Madách zu konstatieren sind, können wohl nicht nur auf die unterschiedlichen dichterischen Talente und Persönlichkeiten ihrer Autoren zurückgeführt werden. Oder was Schuld, Sühne und Erlösung sind, wird in den Werken von Péter Nádas und Heinrich Böll anders bestimmt, weil ihr künstlerischer Standpunkt durch die historischen Zustände in der Bundesrepublik Deutschland und in der einstigen Volksrepublik Ungarn anders determiniert wurden. Auf einer allgemeineren Ebene geht es aber um transhistorische Erfahrungen, die alle Menschen in allen Ländern brauchen, die an die Freiheit des menschlichen Willens, an die Selbstbestimmung des Individuums und Klassen von Individuen glauben.

Können Sie bei Ihren Vorlesungen Ihre wissenschaftlichen Forschungsergebnisse gut gebrauchen oder ist das unmöglich?
Eigentlich müsste man nur das tun! Man sollte ja nichts ungeprüft übernehmen, obwohl wir natürlich nicht alles überprüfen können, was wir brauchen. Wir kommen zu neuen Ergebnissen, wenn wir feststellen, dass das, was wir erlernen sollten, irgendwo falsch ist, zu Widersprüchen führt oder Fragen unbeantwortet lässt. In einem früheren GeMa-Gespräch verglich ich die Universität mit einem Warenhaus, wo Dinge (Wissen) verkauft werden, die anderswo hergestellt worden sind („Die Studenten können auch das Studium mitbestimmen“, GeMa 1/2003 – Red.). Aber wir Verkäufer (Dozenten) haften für dieses Wissen. Manches aber, was anderswo hergestellt worden ist, erweist sich als fehlerhaft. Wir müssen es reparieren. Wir haben aber auch eine eigene Werkstatt, wo wir neue „Waren“, die nur bei uns zu haben sind, anfertigen. Was ich selbst gelernt, was ich von dem revidiert und was ich neu entdeckt habe, geht in meine Lehrpraxis ein. Das wichtigste ist aber zu zeigen, wie man zu Korrekturen und zu neuen Einsichten kommt. Wer das kritische Denken nicht beherrscht, verdient das Unidiplom (MA) nicht. In diesem Sinne wäre ich für mehr Diskussion, für mehr Gedankenaustausch an der Uni. Ich selbst lerne bei jeder Seminarsitzung etwas dazu.

Wie kamen Sie auf die Idee, die ungarisch-deutschen Kontakte zu erforschen? Spielte dabei eine Rolle, dass die beiden Kulturen relativ gleich sind und auch die Geschichte der beiden Völker viele Gemeinsamkeiten hat?
Es gibt Ansichten, nach denen die ungarische Germanistik nur jene Gebiete erforschen sollte, die von den deutschen Germanisten nicht erforscht werden können, weil sie in der Regel nicht die notwendigen historischen und sprachlichen Kenntnisse haben. Dazu gehören u.a. die Mundartforschung in Ungarn und die deutsch-ungarischen literarischen Wechselbeziehungen, oder die Werbung für die Übersetzung deutschsprachiger Literatur in Ungarn und umgekehrt. Dem kann man nicht widersprechen. Unser Institut trägt zur Lösung dieser Aufgaben sehr intensiv bei. Denken wir nur an die große Hesse-Ausgabe in ungarischer Sprache von Géza Horváth! Aber natürlich ist es auch möglich, zur Goethe-, Broch- oder Böll-Forschung genauso beizutragen, als wäre man ein deutscher Germanist. Alle diese Aspekte sind im Buch vorhanden.

Wie ist die Lage der ungarischen Literatur in Deutschland Ihrer Erfahrung nach? Welchen Kreisen ist sie bekannt?
In der deutschen Rezeptionsgeschichte ungarischer Literatur gab es immer Phasen, in der einzelne ungarische Autoren große Anerkennung und eine relativ weite Leserschaft gewannen. Eine solche Aufmerksamkeit genossen die Gedichte von Petõfi im 19. Jahrhundert. Bettina von Arnim nannte Petõfi „Sonnengott“, Friedrich Nietzsche vertonte mehrere Gedichte von ihm. In der österreichisch-ungarischen Monarchie waren Werke von Mór Jókai populär, zwischen den beiden Weltkriegen wurde der Budapester Witz auch in Wien – repräsentiert durch die Humoresken von Frigyes Karinthy – gepflegt. Seit den 1990er Jahren – und besonders seit der Frankfurter Buchmesse 1999, auf der die ungarische Literatur „Schwerpunkt“ war – gibt es eine neuartige, ziemlich breite und ständige Präsenz der ungarischen Literatur in Deutschland. Auch Autoren aus der Zwischenkriegszeit, wie Sándor Márai und zuletzt Antal Szerb, werden neu entdeckt. Der Nobelpreis von Imre Kertész wirkt sich auf die Rezeption der ganzen ungarischen Literatur positiv aus. Wenn man mit der Arbeit, die im Vorfeld der Buchmesse auf ungarischer Seite geleistet wurde, nicht aufhört, dann wird dieser Erfolg auch nachhaltig sein. Darum haben wir hier im Institut das Frankfurt-Projekt durchgeführt. Attila Bombitz koordinierte die Arbeiten. Das Ergebnis ist u.a. in drei Bänden zusammengefasst und beim Grimm Verlag erschienen (vgl. die Rezension des dritten Bandes in diesem GeMa-Heft - Red.). Das ewige Lamentieren wegen der Isoliertheit unserer Sprache sollte aufhören, und die Arbeit für eine systematische Unterstützung der Übersetzung und Verbreitung der ungarischen Literatur im Ausland soll fortgesetzt werden. Eine Aufgabe auch für unsere Studierenden, die in der Zukunft hier ein Arbeitsfeld für sich finden können.

Was möchten Sie der Jugend miteilen? Wie kann die Jugend dazu kommen, dass auch sie so reif ist wie Sie, um diese Werke zu verstehen, zu analysieren oder etwas Ähnliches zu machen? Wie kann ein junger Mensch Forscher werden? Was empfehlen Sie uns, wie sollen wir uns entwickeln und bilden?
Für den Zustand der Welt sind wir alle verantwortlich. Im Wissen um diese Verantwortung sollten wir unser Leben gestalten. Wir Germanisten brauchen nicht nur das Wissen, wie wir das Mobiltelefon benutzen, sondern auch das Wissen, wie wir Probleme lösen können, die technisch nicht zu lösen sind. Dieses existentielle Wissen können wir durch das kritische Studium großer Autoren erwerben. Nichts gegen Spiel, Sport, Spaß und Zerstreuung. Das Wort Zerstreuung, „szórakozás/szétszóródás“ erfasst das Wesen dieser Art der Tätigkeit übrigens sehr gut, man zerstreut sich, man hört auf, ein Individuum, etwas „Unteilbares“, zu sein, um nicht mit den wesentlichen Fragen des Lebens konfrontiert sein zu müssen. Ich würde den Studenten raten, die Mobiltelefonrechnung zu halbieren und für die übrig gebliebene Summe Bücher zu kaufen, z.B. Platons „Staat“, Goethes „Wahlverwandtschaften“ oder Nádas’ „Emlékiratok könyve“ (Buch der Erinnerungen) und das Gelesene mit guten und streitbaren Freunden zu diskutieren. Man wird Wissenschaftler durch kritisches Aneignen des Wissensgebietes, an dem man arbeitet. Und wenn man Fragen hat, auf die keine Antwort im Vorhandenen zu finden ist.

Wie sind Ihre weiteren wissenschaftlichen Pläne?
Ich habe eine vertragliche Verpflichtung, eine Übersicht über Goethes Faust für ungarische Schüler und Studenten zu schreiben. Und es bleibt die Hauptaufgabe, an der kritischen Ausgabe von Heinrich Bölls Werken zu arbeiten. Im November ist mein Lieblingswerk, „Ansichten eines Clowns“ als der 13. Band der Kölner Ausgabe mit vielen neuen Einsichten im Kommentarteil herausgekommen.

Danke schön für das Interview!
Ich danke Ihnen für Ihre Fragen! Es war ein Vergnügen, mit Ihnen über Studium und Studien zu sprechen.