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Zeitung << 2/2004 << Bitte, einmal in die Vergangenheit, hin und zurück!


Bitte, einmal in die Vergangenheit, hin und zurück!
Eine Traumfahrt in das Wien der Jahrhundertwende

Autor: Tünde Mészáros

Wien war um die Jahrhundertwende ein Zentrum der europäischen Kultur. Charakteristisch ist für diese Zeit das Gefühl der Dekadenz. Obwohl der Zerfall der Monarchie in der Luft fühlbar ist, gibt es ein sehr lebendiges Kulturleben in der Stadt. Nicht nur die Monarchie, sondern auch der Kaiser selbst sind zu dieser Zeit alt. Das ganze System liegt im Sterben, während ein Stilpluralismus zu beobachten ist. Zu dieser Zeit blühen in Wien der Impressionismus, die Sezession und die Neuromantik. Um die Jahrhundertwende entfaltet sich eine Generation, die in der Atmosphäre des Zerfalles etwas Dauerhaftes schaffen kann.

Der 30.10.1904, Wien. Ich trage einen langen Rock, eine weiße Bluse und einen Hut mit einer breiten Krempe. Ich bin so hübsch wie noch nie. Wie eine echte Dame! Mir gegenüber fährt die Wiener Stadtbahn, die 1898 eröffnet wurde und die bessere Verbindung zwischen Vororten und Stadtzentrum ermöglicht. Ich mache einen Spaziergang in der Stadt. An vielen Gebäuden kann man die pflanzenartige Ornamentik bewundern. An den Wänden tauchen Blätter und Blumen in sehr vielen Farben auf. Ich fühle, dass das Ziel der Vertreter der Sezession ist, die Natur den Menschen näher zu bringen. Die Sezession blüht. Ich bemerke ein altes Plakat aus dem Jahre 1897 von Gustav Klimt, das zur ersten Ausstellung der Sezession einlädt. Ich trete in einen Ausstellungsraum. Vor meinen Augen stehen Möbel, Schmuckstücke, verschiedene Papierwaren, Keramiken, Produkte der „Wiener Werkstätte“. Josef Hoffmann und Koloman Moser rufen diese Institution 1903 ins Leben als Antwort auf die industrielle Massenproduktion. Moser ist einer der größten Künstler der Jahrhundertwende, er ist Maler, Graphiker, Buchkünstler, Bühnen- und Kostümbildner und Mitbegründer der Sezession. Ihr Ziel ist, Zweck und Form wieder zu einer Einheit zu verbinden.
Ich spaziere weiter. Nach einigen Minuten bleibe ich stehen und bewundere die markante goldene Kuppel des Sezessionsgebäudes am Karlsplatz. Es wurde von Joseph Maria Olbrich 1898 gebaut. Ich möchte einen Kaffee trinken. Ich gehe weiter. In den Straßen strahlen die prächtigen Gebäude zwischen den lauten Omnibussen und hupenden Automobilen Friede und Ruhe aus. Ich bin vor dem Café Central, das die Rolle des Cafés Griensteidl übernahm. Dieses Kaffeehaus ist ein Treffpunkt von Schriftstellern, Dichtern und Journalisten. Hier scheint eine Literatengesellschaft zu Hause zu sein. Ich nehme Platz in der Ecke und bestelle eine Melange. Ich nehme eine Zeitung in die Hand und lese ein Zitat von Alfred Polgar: „Das Café Central ist nämlich kein Caféhaus wie andere Caféhäuser, sondern eine Weltanschauung und zwar eine, deren innerster Inhalt es ist, die Welt nicht anzuschauen... Das Café Central liegt unterm Wienerischen Breitengrad am Meridian der Einsamkeit. Seine Bewohner sind größtenteils Leute, deren Menschenfeindlichkeit so heftig ist wie ihr Verlangen nach Menschen, die allein sein wollen, aber dazu Gesellschaft brauchen.“ In diesem riesigen Saal hängen von der Decke große Luster herunter. Das Sonnenlicht kommt durch die mächtigen Fenster in das Gebäude. Die roten Vorhänge aus Samt machen das Café gemütlicher. In einem Raum stehen Billardtische, in einem anderen häufen sich Berge von Zeitungen. Die Liste der Besucher ist lang, von Altenberg über Karl Kraus bis zu Robert Musil treffen hier die populären Künstler der Zeit zusammen. An einem Tisch neben mir sitzen drei Leute. Der Mann mit Ziegenbart und Schnurrbart, der einen Hut trägt, ist der 42jährige Arthur Schnitzler, einer der meistgespielten Autoren. Ihm gegenüber nimmt der Kritiker und Essayist Hermann Bahr Platz, dessen Engagement für die bildende Kunst nach 1900 ganz wesentlich hervortritt. Zwischen ihnen sitzt der 30jährige Hugo von Hofmannstahl, einer der bedeutendsten österreichischen Lyriker, Erzähler und Dramatiker. Sie unterhalten sich über die Eröffnung des Apollo-Theaters, das das größte und modernste Theatergebäude Wiens ist.
Jetzt muss ich aber gehen. Unterwegs gucke ich durch das Fenster in das Café Museum. Dieses Café wurde 1899 von Adolf Loos eingerichtet. Er gehört zu einer jüngeren Generation. Für ihn ist allein die Funktion des Gebrauchsgegenstandes wichtig. Alles dient hier der Zweckmäßigkeit. Die freistehenden Tische fördern die Kommunikation. Rund um die Tische stehen die von Loos selbst entworfenen Thonet-Sessel. Spiegel, Kleider- und Zeitungsständer sorgen für Gemütlichkeit. Der Tür gegenüber steht ein Barpult, links gibt es einige Billardtische. An den Tischen sitzen ruhige, lebensfrohe Leute. Sie wurden von den bevorstehenden Weltkriegen, Diktaturen und Revolutionen noch nicht um ihre Ruhe gebracht.
Ich gehe weiter. Ich steige in den Omnibus ein. Ich lasse die junge Generation, die hübschen Kleider, die Künstler, die Frauen vor den Geschäften, die Männer in den Kaffeehäusern, das freundliche, lebenslustige Wiener Volk, die wunderschöne, wimmelnde Stadt, die Kaiserstadt entlang der blauen Donau hinter mir. Wegen der holprigen Fahrt schlafe ich schnell ein und ich wache „nur“ in der Universitätsbibliothek in Szeged, am 30.10. 2004 auf.