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Zeitung << 1/2006 << „Wozu Literatur?”


„Wozu Literatur?”
Wissenschaftliche Selbstreflexion anlässlich eines Seminars

Autor: Mihály Arany

„Zur Prüfung bitte die folgenden Pflichtlektüren lesen: ein Werk von Goethe, eines von Grillparzer, eines von Thomas Mann. Warum gerade sie? Woher stammt dieser Kanon? Und was lernen wir aus diesen Werken; wozu überhaupt die Literatur?” – diese und ähnliche skeptische Äußerungen, Fragen sind den Germanistikstudenten nicht fremd.

Das Seminar von dem Kasseler Professor Dr. Achim Barsch und Dr. Attila Bombitz im Sommersemester 2006 übernahm eine interessante Aufgabe: Die Literaturwissenschaft fragt und reflektiert das Warum ihres Gegenstandes, der Literatur. Die Idee des Seminars kam von Achim Barsch, der am 28. Februar und am 1. März 2006 zwei Blockseminare hielt. Attila Bombitz war der Organisator auf der ungarischen Seite und Moderator bzw. im Späteren Leiter des Kurses mit dem Tutor Jan Rieckmann. Der Professor brachte aufschlussreiche Texte zum Thema mit, mit deren Hilfe einige wichtige Problemkreise der Literatur erörtert wurden. All diese trugen auch dazu bei, dass das Seminar ein zwischenprüfungsfreundliches Gesicht bekommen konnte.
Unter der Leitung von Achim Barsch nahmen wir drei Themen – die Literatur/Kunst als Verfahren, Literatur und Politik, literarische Sozialisation – unter die Lupe. Es gab auch ständig Möglichkeiten für Diskussionen und für Fragen, die die Studenten am Anfang verständlicherweise scheu, aber später immer mutiger nutzten.
Diese Themen waren wirklich lebensnah, also solche Fragen, mit denen man sich in der Praxis im Bereich der Literatur konfrontiert sieht. Der Begriff Literatur wird heute – besonders im Rahmen der sog. empirischen Literaturwissenschaft – als ein in einem zusammengesetzten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen, institutionellen Kontext eingebetteten System betrachtet, in dem jeder Aktant – der Produzent (Schriftsteller, Dichter usw.), der Vermittler (Verlag, Buchhandlung), der Rezipient (Leser) und der Verarbeiter (Kritiker, Literaturwissenschaftler) – eine wichtige Rolle spielt (das ist ein Modell von Siegfried J. Schmidt). Diese gesellschaftliche Bedingtheit impliziert beispielsweise solche Fragen wie das Verhältnis zwischen der Literatur und der politischen Kultur – was ist die Aufgabe der Literatur bei verschiedenen historischen Ereignissen, wie können die Schriftsteller identitätsstiftende Mythen ins Leben rufen, wie generieren sie Symbole in der politischen Kultur, wie wird die Politik in der Textwelt abgebildet?
Der Professor fragte uns häufig auch nach der Lage der ungarischen Literatur und den hierzu gehörenden Erfahrungen. Im Rahmen des Seminars diskutierten wir auch über die Lesegewohnheiten und die Pflichtlektüren; die Kanonfrage war also ebenfalls ein „Schlagerthema“: Was oder wer entscheidet, welche Werke und Autoren in dem Wert- und Distinktionssystem der Literatur eine anerkannte, legiti­mier­te Position ein­nehmen können? Hierzu gehört aber auch die Frage „Wie lesen wir? Lust oder Last ist das Lesen?“ – also die Bedeutung und das Erlebnis des Lesens, die literarische Sozialisation. Hierbei spielt heute die erhöhte Bedeutung der Massenmedien eine bedeutende Rolle. Wir wissen vielleicht noch nicht, wie viel die nachfolgenden Generationen mit dem Untergang der „Gutenberg-Galaxis“ (ein Begriff von Marshall McLuhan) verlieren können; alles, was das Lesen leisten kann: die Entwicklung der Imaginationsfähigkeit, verschiedener Lesestrategien, Glücksgefühl beim Lesen.
Neben diesen wohl bekannten Phänomenen beschäftigten wir uns auch mit einem solchen kühnen Thema wie Literatur und Biologie: Die Kunst sei dementsprechend eine solche Verhaltensweise, die dem Menschen einen evolutionären Vorteil in der natürlichen Auslese verschafft hat – wie wir diese Grundtheorie von Darwin gut kennen.
Diese Fragestellungen bieten nur einen kleinen und oberflächlichen Einblick in die Arbeit des Seminars, in dessen Rahmen sowohl rein theoretische als auch praxisorientierte Fragen der Literaturwissenschaft diskutiert wurden. Wir wurden damit konfrontiert, dass das Wozu-Literatur-Dilemma gar nicht so einfach beantwortet werden kann. Aber man kann mit Hilfe dieser Überlegungen etwas Wichtiges, was vielleicht dem Wesen der Literatur nahe steht, erahnen.