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Zeitung << 1/2007 << Thomas Brussig in Szeged


Eine ungewöhnliche Lesung mit einem ungewöhnlichen Aspekt
Thomas Brussig in Szeged

Autorin: Zita Schleier

Am 12. April 2007 hielt Thomas Brussig eine „Lesung“ vor vollem Haus an der Universität Szeged. Die Lesung wurde von dem Goethe Institut und dem DAAD-Lektorat Szeged organisiert. Im Rahmen einer gewöhnlichen Lesung erwartet man meist ein Vorlesen und vielleicht einige Kommentare oder Hintergrundinformationen über die Entstehungsgeschichte der Bücher, aber in diesem Fall konnte man Augenzeuge einer ungewöhnlichen Lesung sein. Statt Vorlesen dominierte eine Diskussion zwischen dem Autor und seiner ungarischen Übersetzerin die Veranstaltung. Was die Ungewöhnlichkeit der Sache noch steigerte, ist die Information, dass zwischen dem Autor und seiner Übersetzerin während des Übersetzens Am kürzeren Ende der Sonnenallee kein Kontakt gehalten wurde. Die Übersetzerin wählte das Buch ohne die Meinung des Autors zu erbitten. Die Begründung der Wahl war einfach, dass ihr dieses Buch am besten gefiel.

Die Lesung begann nach der Begrüßung des Autors mit seiner Vorstellung durch die Übersetzerin. Man erfuhr seinen Lebenslauf und einige offizielle Aussagen über seine Kunst: er wurde 1965 in der DDR geboren, studierte Filmdramaturgie nach dem Mauerfall, lebt heute teils in Berlin, teils in Mecklenburg. Er wurde als wütend und nostalgisch tituliert, dann sein fast kindlicher, an einigen Stellen ironischer Humor angedeutet und der Mut seines Äußerns betont. Auf die Frage, ob er aus dem Häuschen gebracht wurde, antwortete er mit dem ironisch, doch witzig gemeinten Satz: „Ich hab’ mich daran gewöhnt!“ und fuhr mit der Auseinandersetzung mit dem vorher Gesagten fort: „Ich bin nicht politisch; ich interessiere mich nur für die Zeit, in der ich lebe, und für die Stelle, an der die Geschichte in das Alltagsleben der Menschen hineindrängt; in dem Sinne bin ich politisch“. Er setzte noch hinzu, dass er für die Parteien gar kein Interesse habe, im Gegensatz zu den Menschen, die im Zentrum seiner Bücher stehen.
Über die Benennung „Ostautor“ oder „Ostexperte“ äußerte er sich mit Stolz und fügte hinzu, dass sich dagegen zu wehren, eigentlich keinen Sinn mehr hat. Sein Reiz stecke eben darin, dass er über die DDR aus einem anderen Aspekt schreibt, der humorvoll – doch ohne verniedlichenden Ton – so genannt „ostalgisch“ wirkt. Um diese Ostalgie zu erklären, zitierte er Kundera, der sagt, dass nach dem Kitsch das Vergessen komme, also bezüglich der DDR schon auch das Vergessen kommen kann, und hier denke er an die schrecklichen Erinnerungen. Sie sollen aufgearbeitet werden und dazu wende er unter anderem Humor als Methode an.
Thomas Brussig begann das Schreiben, weil er nicht reden konnte; er war zu scheu. Sein erstes Buch Wasserfarben veröffentlichte er mit 28 Jahren unter einem Pseudonym. Der Grund dafür lautet Angst. Er fürchtete sich davor, dass es niemandem gefallen könnte. Der Roman hat einen autobiographischen Kern und im Falle eines Misserfolges wollte er nicht seine Meinung erklären, sondern dafür die Verantwortung übernehmen. Und das Buch wurde ein Misserfolg, aber nicht wegen der Qualität, sondern wegen des Verlages. Das Buch zu schreiben begann Brussig mit 20 Jahren, als die DDR noch existierte, was auch einen Einfluss auf die Geschichte ausübte: Ein streng moralischer Schüler weiß nicht, was er werden will. Er empfindet Angst vor der Welt der Erwachsenen, in der alles so klar und einfach erscheint. Er findet seinen Platz nicht, ist orientierungslos. Eben diese Orientierungslosigkeit des Schülers spiegelt die damalige Orientierungslosigkeit des Autors in der DDR, deren Ende man zur Zeit der Entstehung des Buches noch nicht vorhersehen konnte, wider. Seine materielle Existenz sicherte sich Thomas Brussig mit seinem zweiten Roman Helden wie wir, der ein Welterfolg wurde. In diesem stark humoristischen Buch trägt die Hauptfigur auf eine ganz ungewöhnliche Weise zum Mauerfall bei. Doch selbst bei dem Mauerfall bleibt die Katharsis aus. Der Mann, der zehn Jahre die Schule besuchte und nach eigenem Gefühl zehn Jahre lang nur Mist lernte, der im Privatleben auch immer versagt, ist nach dem Mauerfall enttäuscht über die Frage, die er sich stellt: Wie konnte die Mauer so lange stehen? Wo könnte ich noch mehr tun? Die Erlösung für ihn bleibt wirklich aus.
Außerdem hat Brussig noch drei Bücher veröffentlicht: Wie es leuchtet, Leben bis Männer, Am kürzeren Ende der Sonnenallee, aus dem auch der Film Sonnenallee entstand, der den Drehbuchpreis der Bundesregierung bekam. In diesem Buch geht es um Micha Kupisch, der mit seiner Familie gleich neben der Mauer, im Ostteil Berlins wohnt. Doch Micha macht daraus kein dramatisches Problem. Seine Gedanken kreisen immer um ein Mädchen, das Miriam heißt und das weit und breit das allerschönste ist. Micha und sein Freundeskreis führen ein außergewöhnliches Leben. Alles und alle scheinen an dem kürzeren Ende der Sonnenallee vom Normalen abweichend, aber niemand bemerkt das richtig, denn es ist ihr Leben.
Während der Lesung wollte der Autor nur nach zweimaliger Bitte etwas vorlesen, was auch nicht länger als fünf Minuten dauerte und die ersten paar Seiten aus der Sonnenallee waren. Brussig hatte zwar keine Lust zum Vorlesen, doch zum Sprechen. Die außerordentlich ostalgische Wirkung des Buches erklärte er mit der Zeit: nach seiner Meinung ist die Gegenwart nicht die verlängerte Vergangenheit. Er gab zu, dass er erst einmal wütend war, aber als die Zeit verging, konnte er die DDR irgendwie nicht mehr hassen. Die Zeit milderte die Erinnerungen: „Der Kopf weiß, dass es früher nicht schöner war, aber das Herz fühlt etwas anderes.“ Diese Paradoxie stellt er in dem Buch dar. Man bekam von dieser Lesung etwas anderes, als man erwartet hatte, doch lohnte es sich anwesend zu sein, denn es war eine Bestätigung für die Originalität der Persönlichkeit: eine ungewöhnliche Lesung von einem Künstler mit einem ungewöhnlichen Aspekt.