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Zeitung << 1/2008 << Der Tonmeister und die „tausendjährige Eiche“


Der Tonmeister und die „tausendjährige Eiche“
Interview mit Professor Peter Eisenberg

Autor: András Horváth

Die Germanistikstudenten kennen ihn vor allem als Autor des zweibändigen „Grundriss der deutschen Grammatik“. Im März 2008 wurde er mit dem Konrad-Duden-Preis ausgezeichnet, der alle zwei Jahre an die hervorragendsten deutschen Sprachwissenschaftler verliehen wird. Peter Eisenberg unterrichtete im Sommersemester 2008 als Gastprofessor an der Universität Szeged. Zu diesem Anlass hatte das GeMa die Möglichkeit, den Professor über seine Erfahrungen in Szeged und seine Beiträge zur Germanistik zu fragen.

Herr Eisenberg, Sie haben sechs Wochen lang an der Uni Szeged unterrichtet. War das Ihr erster Aufenthalt in Ungarn bzw. in Szeged?
Schon vor längerer Zeit habe ich an Tagungen in Szeged und Budapest teilgenommen. Als Gastprofessor war ich jetzt zum ersten Mal in Ungarn.

Sie haben bei uns ein Seminar über Flexionsmorphologie und eine Vorlesung über Grammatik und Sprachnorm gehalten. Was waren da die Schwerpunkte?
Das Lehrdeputat betrug acht Stunden pro Woche. Neben der Vorlesung und dem Seminar gehörten dazu zwei Stunden Konsultationen, es gab aber mehr davon. Dann hatte ich zwei Stunden mit den Doktoranden, in denen wir natürlich auch über ihre Arbeiten gesprochen haben.
Der Schwerpunkt der Arbeit mit den Studenten lag bei der Grammatik. Grammatik in dem Sinne, wie man grammatische Analysen durchführt. Ich bin nämlich der Auffassung, dass man, wenn man über Sprachnorm spricht, auch verstehen sollte, woher Normkonflikte kommen. Heißt es zum Beispiel richtig „ich lauf“ oder „ich laufe“? Warum gibt es diese beiden Formen? Genau so kann man auch bei anderen Sprachnormproblemen fragen. Solche Probleme haben eine grammatische Grundlage, und die versteht man nur, wenn man das Deutsche systematisch analysiert. Dieser Gedanke sollte den Studenten näher gebracht werden, damit sie nicht einfach glauben, „so ist es richtig und so ist es falsch“, weil es in irgendwelchen Büchern steht.

Ist es also auch in der Praxis anwendbar?
Ja, meiner Meinung nach ist es sehr praktisch. Ich habe die StudentInnen immer gefragt: „Wenn ihr Deutsch unterrichtet, und ein Schüler euch fragt, wie ist es richtig, was sagt ihr dann? Ihr müsst doch irgendwas sagen.“ So wurden sie zu Entscheidungen gedrängt. Sie können nicht sagen, beide Varianten sind richtig, sondern müssen zumindest erklären können, warum beide Formen verwendet werden. Wenn sie keine Antwort geben können, fragen die Schüler, wozu sie Germanisten sind.

Wie beurteilen Sie die Einstellung und die Sprachkenntnisse der ungarischen Germanistikstudenten?
Der Unterricht fand vor allem im vierten Studienjahr statt und ist gut gelaufen. Viele Studenten haben sich beteiligt, die Sprachkenntnisse sind gut, so gab es keine Verständigungsprobleme. Manchmal war es schwer, sie aus der Reserve zu locken. Einige waren sehr aktiv, aber manche haben sich zu wenig beteiligt. Warum sagen sie mir beispielsweise nicht, wie etwas im Ungarischen geregelt ist oder wie sie es im Deutschen gelernt haben?

Neben der Grammatik sind Ihre Forschungsbereiche unter anderem Computerlinguistik und künstliche Intelligenz. Können diese Bereiche Ihrer Meinung nach auch den linguistischen Trend der Zukunft bedeuten?
Ja, aber es ist lange her, dass ich mich damit beschäftigt habe. Die Linguistik hat viel beizutragen, wenn es um Dialogsysteme, Kommunikation zwischen Mensch und Maschine oder automatische Übersetzungen geht. Man kann feststellen, dass im Laufe der Entwicklung der Anteil an Linguistik höher geworden ist. Immer deutlicher wurde, dass diese zuerst als technische Probleme aufgefassten Dinge ohne genaue Kenntnis der Sprache nicht zu bearbeiten sind. Es gibt Fortschritte in der Computertechnologie, die Maschinen sind viel schneller, die Speicher sind größer, aber in den anspruchsvollen Systemen kommt mehr Linguistik zum Zuge.

Sie hatten Elektrotechnik und Musik studiert, bevor Sie sich der Linguistik widmeten. Wie wird aus einem Tonmeister ein anerkannter Sprachwissenschaftler?
Das waren goldene Zeiten, als es Ende der 60er Jahre passiert ist! Vielleicht liegen die Fächer aber gar nicht so weit auseinander, wie es auf den ersten Blick aussieht. Mein Fachgebiet war Nachrichtentechnik, und in der Schlussphase des Studiums an der TU Berlin kam gerade die Informatik auf. Ich habe das noch studiert und dort die Diplomarbeit geschrieben. Algebra, formale Sprachen und Programmiersprachen waren Teil des Studiums. Ein weiterer Schwerpunkt lag bei technischer Akustik mit sehr viel Phonetik. Ich wollte aber nicht mein Leben lang Tonmeister bleiben. Die Sprachwissenschaft gehörte immer zu den Fächern, die mir nahe waren, schon weil wir in der Schule alte Sprachen wie Latein und Griechisch gelernt haben. Und damals war bereits zu erkennen, dass in der künftigen Gesellschaft Sprachprobleme eine immer größere Rolle spielen würden. Das hat mir die Richtung gezeigt. Die Germanistische Linguistik erwies sich als ein interessantes Fach, das man ein Leben lang betreiben kann.

Das war doch eine außergewöhnliche und interessante Wende, wenn man das im Spiegel der heutigen Verhältnisse betrachtet.
Die Sprachwissenschaft war in Deutschland in dem Moment, als ich damit angefangen habe, in einer Umbruchsituation. Es gab die klassische Philologie und es gab eine allgemeine Sprachwissenschaft, aber sie waren in ihren Traditionen gefangen. Moderne Linguistik hat es damals in Deutschland nicht gegeben. Dann wurde ein Aufbruch durch die generative Grammatik aus Amerika und die formale Logik in Gang gesetzt. Studenten aus allen Fächern sind in das neue Fach geströmt. Mein Doktorvater zum Beispiel war von Hause aus Physiker. Wir bildeten eine wilde Mischung aus Philologen, Theologen, Sprachwissenschaftlern aus anderen Fächern, Informatikern, Physikern oder Ingenieuren. Das Fach wurde aus dem Nichts aufgebaut. Wen die Linguistik interessierte, der konnte sofort mitmachen. Heute hört sich das fast ein bisschen exotisch an.

Sie haben ein „Grammatisches Telefon“ in Potsdam eingerichtet, was soll man darunter verstehen?
Das grammatische Telefon Potsdam hatte die Aufgabe, jedem, der Zweifel hatte, wie etwas richtig heißt, ob ein Ausdruck etwas Bestimmtes bedeutet, ob etwas in bestimmten Situationen gesagt werden kann, eine Auskunft zu erteilen.
Gab es einen Bedarf dafür? Hatten Sie viele Anrufe?
Ja, das Telefon hat permanent geklingelt. Wir haben am Tag 25-30 Anfragen bearbeitet, und wenn wir mehr Personal gehabt hätten, hätten wir noch mehr bearbeiten können. Sprachberatung hat in Deutschland Konjunktur. Es gibt heute etwa zehn solcher Beratungsstellen. Die größte hat der DUDEN. So viel ich weiß, haben sie 40.000 Anfragen pro Jahr.

Neulich wurden Sie mit dem Konrad-Duden-Preis ausgezeichnet, so gehören Sie zur Gruppe namhafter Sprachwissenschaftler wie Peter von Polenz, Harald Weinrich, Wladimir Admoni oder Gerhard Helbig. Ist es die Anerkennung Ihrer wissenschaftlichen Tätigkeit oder ist der Preis mit einer konkreten Arbeit verbunden?
Der Duden-Preis wird alle zwei Jahre für eine wissenschaftliche Gesamtleistung verliehen. Es ist aber klar, dass ein Wissenschaftler durch bestimmte Werke sichtbar wird.

Bei Ihnen ist es der „Grundriss der deutschen Grammatik“.
Ja, bei mir ist es die Grammatik, die sie in Szeged auch kennen. Wenn man solche auffälligen Werke nicht hat, kann man den Dudenpreis kaum bekommen. Ich habe ihn aber nicht dafür gekriegt, sondern für die grammatischen Arbeiten insgesamt und für ihre Umsetzung in die Praxis.

Sie vertreten die Meinung, die Befürchtungen um den heutigen Zustand der deutschen Sprache seien unbegründet.
Man muss da unterscheiden. Wenn ich sage „die deutsche Sprache“, dann rede ich über die Sprache selbst. Die deutsche Sprache ist in keinerlei Hinsicht gefährdet. Sie hatte noch nie einen so großen Wortschatz, eine so differenzierte Syntax und so vielfältige Gebrauchsmöglichkeiten wie heute. Sie hat alles, was eine Sprache haben kann: von der Wissenschaftssprache bis zur Alltagssprache, von den Soziolekten bis zu den Regionalsprachen, von der Literatursprache bis zu den Fachsprachen. Es gibt eine ganze Reihe, aber nicht sehr viele Sprachen, die all das haben. Ich denke, man soll so eine Sprache nicht schlecht reden, sondern sich darum bemühen, den Sprachgebrauch zu pflegen und zu verbessern. Deshalb ist es richtig, wenn in der Schule mehr Wert auf den Sprachunterricht gelegt wird als jetzt.

Ist also z.B. die Warnung vor den Anglizismen nur eine pessimistische Einstellung?
Was die Anglizismen angeht, sieht es im Prinzip folgendermaßen aus. Das Deutsche ist immer stark von anderen Sprachen beeinflusst worden, am stärksten vom Lateinischen. Der Einfluss des Englischen auf die deutsche Sprache ist damit überhaupt nicht zu vergleichen. Das Deutsche weiß ganz genau, wie es mit Anglizismen umzugehen hat. Man kann sich darüber aufregen, dass bestimmte Sprechergruppen auf eine alberne Weise Anglizismen verwenden, aber dann redet man nicht über die deutsche Sprache, sondern über diese Sprecher. Mit dem Deutschen hat das gar nichts zu tun, die Sprache ist wie eine tausendjährige Eiche.

Sie waren in China Gastprofessor. Ist dort die Germanistik bzw. das Deutschlernen viel anders als in Europa?
In den verschiedenen Auslandsgermanistiken kann man schön studieren, wie eine Sprache je nach Kultur auf eigene Weise gelernt wird. Der Unterschied zwischen China und Ungarn beispielsweise ist groß. Er beruht meines Erachtens im Wesentlichen darauf, dass die chinesischen Studenten eine ganz andere sprachliche Vorbildung haben als die ungarischen. Die Studenten an der Peking-Universität verfügen über ein wahnsinnig entwickeltes Gedächtnis. Stellen Sie sich vor, Sie lernen hier ungefähr 30 Buchstaben im Alphabet, und damit schreiben Sie den gesamten Wortschatz. Die Chinesen lernen jeden Tag zwei Zeichen in der Schule, und wenn sie 2000 gelernt haben, können sie halbwegs einen Text lesen. Damit schulen sie ihr Gedächtnis. Wenn sie Deutsch lernen, hat man den Eindruck, sie lernen ohne Schwierigkeiten Tausende von Phraseologismen und Zitaten auswendig. Sagt man ihnen irgendwas, hört man das wieder. Das ist eine völlig andere Art, eine Sprache zu lernen, als hier, wo kombinatorisch gelernt wird.

Sie waren Autor eines Duden-Bandes und sind Mitglied im Rat für deutsche Rechtschreibung. Können wir Studenten der Germanistik die neueste Rechtschreibung schon als endgültig nehmen?
Hoffentlich noch nicht. Es wird sich nicht mehr viel ändern, aber hoffentlich ein bisschen. Ich war nur kurze Zeit Mitglied in der Kommission, die die Neuregelungen umsetzen sollte, bin aber ausgetreten, weil die Neuregelung nichts taugt. Dann wurden Teile davon rückgebaut zur alten Orthographie, daran habe ich mitgewirkt. Da müssen wir noch einiges tun.

Ich bedanke mich fürs Gespräch, und hoffe, dass Sie eine gute Zeit bei uns verbracht haben.
Ja, ganz bestimmt. Szeged ist eine wunderschöne Stadt. Neben dem Unterricht hatte ich Zeit, Ausflüge in die Umgebung zu unternehmen und ein wenig vom kulturellen Leben mitzubekommen. Auch gab es viele schöne Zusammenkünfte mit den Kolleginnen und Kollegen. Gelangweilt habe ich mich gar nicht.