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Zeitung << 1/2008 << Ein Handbuch für den Notfall


Ein Handbuch für den Notfall
Labyrinth der Pflichtlektüren

Autorin: Anita Ráczné Romsics

Egal ob wir Germanistik oder Hungarologie studieren, Medienwissenschaft oder Philosophie, wenn man irgendein geisteswissenschaftliches Fach wählt, dann gibt es keine Wahl: hier muss man lesen. Es klingt sehr schön und selbstbewusst, aber wenn wir schon im September die Liste von den Pflichtlektüren anfangen (bei Fahrten mit der Straßenbahn oder beim weihnachtlich-idyllischen Besuch der Familie), dann kommen wir höchstens bis zur Hälfte der nicht enden wollenden Liste. Diese Liste ist wirklich ein Teufelskreis. Wenn man einen Roman vor mehreren Semestern gelesen hat, dann kann man leicht die Personen, die Handlung, vielleicht auch die Szenen, Orte und natürlich selbst die Autoren durcheinanderbringen. Diese chaotische Mischung der „Pflichtlektüren-Welt” kann gefährlich sein! Dazu braucht man echte Geistesgegenwart. Die germanistische Zwischenprüfung in Literatur ist zum Beispiel ein sehr spannendes und lustiges Ereignis, wo alles relativ ist. Ich habe schon so etwas erlebt, dass ich – ganz ehrlich – das Werk gelesen hatte, trotzdem habe ich, vielleicht wegen des Stresses, wer weiß aus welchem Grund, alles vergessen. Es gibt so viele Bemängelungen auf die kritische Frage:

„Warum haben Sie die Werke von XY nicht gelesen?“
Jetzt kommt die kreative Seite der Prüfung, wo man wortwörtlich etwas schaffen soll. Aus purem Trotze muss man interessante Geschichten erzählen, warum man die ausgewählten Werke nicht gelesen hat. Diese Erzählungen-Erklärungen sind meistens noch attraktiver als die Prüfungsfrage selbst, hier gibt es wirklich alles: vom traurigen Liebeskummer mit dem bzw. der gerade aktuellen PartnerIn… Katze mit Schnupfen… Aberglaube mit Depression gemischt… Skiferien im Mai, noch besser im Juni… bis zu anderen Zwischenprüfungen, oder nur ganz einfach die „Vergeblichkeit des Seins“. Diese seelischen Stürme werden im Werk von Milan Kundera: Die unendliche Leichtigkeit des Seins erklärt. Dieses Werk kann ich als fakultativ-obligatorisches Buch definieren: spannend, trotz voller Qualen, also es macht eine erträgliche Stimmung für die Zwischenprüfung oder nur ganz einfach für die alltäglichen Seminare. Pardon! Die Vergeblichkeit der Zeit oder die Vergeblichkeit der sogennanten Sysiphosischen Arbeit… ES ist „Unibekannt” und fast ein nettes Klischee. Und natürlich war niemand in der Kneipe, und alle haben alles gelesen…
Aber wenn jemand das Buch von Pierre Bayard kennt: Wie man über Bücher spricht, die man nicht gelesen hat, dann sind die vorher erwähnten Tricks absolut überflüssig. Das Phänomen, über das der Autor schreibt, ist nichts anderes, als DIE KUNST, die wir als Schatz schützen sollten, weil wir ein riesengroßes Talent besitzen. Diese spezifische Art von Kunst, die „wir” fast jeden Tag üben, besteht aus zwei Hauptelementen: Situationskomik und Rhetorik.
Der Student soll nur ganz ruhig und lächelnd, aber mit Hand und Fuß reden, so wird seine Rede betont. Wenn er die Handlung des Buches leider nur vom Hören oder von „geerbten Notizen” beziehungsweise von verkürzten Formen von Pflichtlektüren kennt, dann muss der Student IMPROVISIEREN.
Dieses Buch ist kein Handbuch oder Rezept. Der tragi-komische, andererseits selbstironisch-satirische Titel steht hier wegen der ständig steigenden Spannung, die wir sowohl im Alltagsleben als auch in der Prüfungszeit brauchen. Er spricht sehr frei und ehrlich über Werke, die normalerweise Pflichlektüren sind, aber er hat damals, wie auch heutzutage diese Werke nicht ge
lesen, oder nur „oberflächlich” gelesen. Trotz dieses Fehlers arbeitet er momentan als Literaturwissenschaftler in Frankreich. Die Grundidee zu diesem Buch hat didaktische Hintergründe und beruht auf peinlichen Notfällen, wo wir improvisieren können-müssen. Infolge dessen: mit diesem Buch können wir nichts bei der Zwischenprüfung anfangen. Aber vor der Prüfung kann es als „Beruhigungsmittel” funktionieren. Nach der Prüfung ist es absolut egal, ob wir dieses Buch in die Hand nehmen oder nicht. Aber ich denke, dass es noch immer besser ist als wegen einer spontaner Aufflammung in die erste Kneipe hineinzutreten…
Beim zweiten Versuch einer Prüfung, den wir ganz elegant nur mit den magischen zwei Buchstaben „UV” (Nachholprüfung) verkürzen, können wir vielleicht mit diesen Grundideen beginnen:

Dieses Werk ist weltbekannt, aber es ist nur vom Hören bekannt, viele sprechen darüber, aber niemand hat es bis zum Ende gelesen. Bayard ordnet die Bücher in verschiedene Kategorien ein: „IK” (ismeretlen könyv) bedeutet beim Bayard „absolut unbekannte Werke”, „ÁK” (átlapozott könyvek) bedeutet „durchgeblättertes Buch”, „EK” (elfelejtett könyvek) symbolisiert „vergessenes Buch”, und am Ende steht die beste Kategorie: „HK” (hallomásból ismert könyvek), d.h. vom Hören bekannte Bücher.

So können wir vielleicht den goldenen Mittelweg erreichen. Wenn der Prüfer lächelt, dann haben wir Glück, weil dann die „HK -Variation” genug ist, und wahrscheinlich akzeptiert wird.
Es ist eine wahre Geschichte. Also mit besseren Tricks kann ich nicht dienen, nur mit dem, was ich schon erlebt habe. Bei der Prüfung muss man kämpfen und nicht nur ganz einfach aufgeben!