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Soll und Haben
Bilanz mit einem lachenden und einem weinenden Auge

Autor: Konrad Gerescher

Ein Jahrdutzend ist im Leben eines Menschen nicht viel, doch einige Lebensabschnitte können mit ihm positiv oder negativ dauerhaft geprägt werden. Nehmen wir nur die Ausbildungszeit eines jungen Menschen, die sich hauptsächlich in 6 bis 12 Jahresabschnitte einteilt, oder das Rentenalter, es ist mit plus oder minus sechs Jahren wesentlich erweitert oder verkürzt usw. Unser Szegediner Deutschforum begann in einem dialektologischen Seminar am Szegeder Germanistischen Institut Mitte der Neunziger, in dem der Unterzeichnete einige volkskundliche Referate halten durfte. Spontane Erweiterung des Seminars in mundartliche Feldforschung der Studenten, mit ca. 50 in Westungarn besprochenen Kasetten, bildeten sozusagen den Grundstock für die Weiterarbeit in zweisprachigen Grund- und Mittelschulen paar Jahre später. Das Zusammengehen mit der GJU Szegedin führte 2001 zur Schaffung fruchtbarer Kontakte zu Serbien und Rumänien und einer eigenen Internetseite mit viel volkskundlichem Material, das heute noch einsehbar ist. Da wir mit dem Programm des Deutschforum nicht immer ein gutes Echo hervorrufen konnten, haben wir heute eine lehrreiche Übersicht über Soll und Haben in einer ansehlichen Palette, die hier gekürzt wiedergegeben werden soll.

Volkskundliche Seminare
Sie wurden bei einer durchschnittlichen Teilnehmerzahl von ca. 20 Studenten an der Uni abgehalten und können an positiver Beobachtung auf der Haben-Seite vermerken, dass, außer den deutschstämmigen, auch viele ungarische Studenten teilnahmen, bei denen echter Wille zur Erweiterung ihres nationalen Horizontes erkennbar war. Alle sprachen gut deutsch, doch – dabei kommt der negative Soll-Faktor ins Spiel – durch die große Menge des zu behandelnden Stoffes und die Kürze der Seminare auf ein paar Stunden, konnten sich viele gar nicht zu Wort melden und die es konnten, mussten in Stichworten ihre Bemerkungen und Fragen vortragen.

Vorträge
Sie konnten umso mehr beeindrucken, je professioneller sie abliefen. Daher waren sie immer mit hochgradigen Kapazitäten besetzt, die allerdings durch die weiten Anreisen materiell und zeitlich recht aufwändig waren. Die einzigartige Spitze bildeten die von uns zusammen mit dem Deutschen Lehrstuhl organisierten internationalen volkskundlichen Tagungen, deren positive Ergebnisse im Nachhinein von manchen auswärtigen Gastreferenten, denen man die Reisekosten schuldig blieb, schlecht bewertet wurden. Also heben sich hier Soll und Haben fast auf, da das ausreichend vorhandene Budget nicht effektiv eingesetzt wurde. War es ein unguter Geist oder stand nur jemand zufällig hinderlich auf der Leitung, jedenfalls verliefen die Tagungen immer dann gut, wenn die Organisatoren zuerst einmal aus eigener Tasche die Kosten vorschossen, um im Nachhinein nur einen Teil davon zurück zu bekommen.

Sprachwettbewerbe
Hierbei besteht die Erfahrung, dass sie in verschiedenen Schwierigkeitsgraden abliefen und immer an die beteiligten Schüler höchste Forderungen stellten. Die Motivation zu den Wettbewerben mit volkskundlichen Lerninhalten stieg einmal mit der Zahl der verschiedenen Klassen, die am Wettbewerb beteiligt waren, zum zweiten mit der gekonnten Themenwahl und nur unwesentlich mit den winkenden Preisen oder gewonnenen Plätzen. Vorwiegend wurden von uns Wettbewerbe mit horizontaler Ausrichtung auf einer Klassenebene durchgeführt. Doch wenn genügend Zeit für einen Sprachwettbewerb zur Verfügung stand – oder geschaffen werden konnte – dann wurden zwei oder mehr Schulstufen am selben Wettbewerb, sozusagen vertikal, beteiligt. Das unter einem gemeinsamen Motto stehende Programm lief am beeindruckendsten so ab, dass mit den untersten Schulstufen begonnen wurde – z.B. Vortrag oder Beschreibung bzw. Übersetzung desselben Themas durch einige Schüler – um den Schwierigkeitsgrad bei der nächsten Schulstufe (Mittelschule, Gymnasium) mit ungefähr der gleichen Schülerzahl zu steigern und bei der höchsten Lernstufe (Hochschule, Uni) eine von allen Beteiligten bestaunten Leistung die Vollendung herbeizuführen. Obzwar jede Stufe eine Platzierung durch die Jury bekam, wurde der Tagessieg durch eine Trophäe belohnt. Dass alle Beteiligten schöne, namentliche Teilnahmeurkunden bekamen, ist selbstverständlich. Soll und Haben waren hier nahe beieinander.

Rezitationen
Am meisten beeindruckten dabei die gründlich und mit echtem freiwilligem Engagement vorbereiteten, die zwischen ungarndeutschen und ungarischen Schülern nicht zu unterscheiden waren. Sieger bei Rezitationswettbewerben waren solche Schüler, die zusätzlich zum Text auch einige schauspielerische Elemente zeigten. Ob Hochsprache oder Mundart, in jedem Falle war die zur Textübung aufgewandte Zeit ausschlaggebend. Bewährt hatte sich bei uns die Ansage der mundartlichen Zuordnung zu einer örtlichen, städtischen oder regionalen Einwohnerschaft, und wo das nicht möglich war, konnte auch mit einem Hinweis auf die Siedlerahnen leicht abgeholfen werden. Rezitationen ungarndeutscher Dichter wurden bevorzugt. Hochdeutsche Autoren wurden eher von ungarischen Schülern vorgetragen. Allgemein kann bei dieser Programmart die beeindruckend gleich gute Übung deutschstämmiger wie ungarischer Schüler erwähnt werden, was unsere Haben-Seite bei weitem überwiegen ließ.

Workshops mit der GJU
Die ungarndeutsche Tradition ist reich an kunstgewerblichen Objekten. Alle Gewerbe- und Lebensbereiche waren bei den Ahnen künstlerisch ausgeschmückt, was die persönliche Individualität der Arbeits- und Lebensart betonte. Im gemeinsamen Beschäftigen hat heutzutage eine Gruppe die Chance, sich auf sehr unterhaltsame Weise einen Teil der reichen ungarndeutschen Vergangenheit zu erschließen. Doch die Grenzen zwischen gewolltem und gekonntem Ausführen sind nicht eindeutig festgelegt, so dass auch die Ansprüche an die Endprodukte eher aus dem unterhaltenden und erst zweitrangig aus dem künstlerischen Blickwinkel bestimmt werden. An Beispielen aus Workshops mit Studenten aus dem ehemals großungarischen Raum – das heute rumänienische Banat inbegriffen – die in schönen Volkstrachten, doch auch mit sonstigen handwerklichen Meisterstücken in Szegedin die volkskundlichen Inhalte ihrer Abschlussdiplome vorstellten, könnten beispielhaft gelten, wenn, ja wenn sie genügend bezuschusst und so auf die Zukunft übertragbar gewesen wären. Dazu kam 2005 die überraschende Umstrukturierung im gesamten ungarischen Lehrbetrieb, so dass nicht nur die gemeinsamen Programme mit der GJU, sondern die GJU Szegedin selbst wegrationalisiert wurden. Einem gewichtigen Haben verdüsterte hier ein übergroßes Soll die Zukunft.

Gesangsaufführungen
Dieser Programmkomplex ist in Ungarn optimal ausgestaltet und hat landesweit die meisten Aktiven. Das Deutschforum hatte sich zum Ziel gesetzt, jährlich einmal am Semesterbeginn ein volkskundliches Singen zu veranstalten. An einem Tag im September wurden zwei Berufssängerinnen engagiert, die perfekt deutsche Volkslieder aus alten Liederbüchern vortrugen und die jungen Zuhörer zum Mitsingen animierten. Die Zwischenprogramme bestanden aus Erklärungen der Herkunftsorte und Inhalte der Lieder, wie sie von unseren Liederforschern ermittelt worden waren. Wenn die wenigen Gesangsbegegnungen mit den Studenten im ersten Semester, die sich für volkskundliche Zusatzqualifikation entschieden hatten, auch die Herzen der nichtdeutschen Geldgeber erobert hätten, so wäre die Szegediner Jugend um einen schönen Semesterbeginn reicher geworden. So bieb nur ein kleiner Restchor von Menschen übrig, bei dem die Mehrheit kaum versteht, was sie singt. Setzt man hier die Gegebenheiten als Soll und die Möglichkeiten als Haben ein, dann ist klar, was schwegewichtig überwiegt und in eine deprimierende Zukunft weist.

Faschingstanz
Die ungarndeutsche Tradition, in diesem ursprünglich nichtchristlichen Element christliche Schwerpunkte zu setzen, ist noch von den Siedlerahnen übernommen und bis zum Zweiten Weltkrieg in jeder Generation praktiziert worden. Gemeint sind dabei vor allem der Beginn und das Ende von Lustigkeit und Maskerade, die mit Anfang und Ende der Fastenzeit zusammenfallen. Nach dem Krieg haben diese beiden ehemaligen Fixpunkte ihre Unverrückbarkeit verloren. Ohne nun zu sehr den Ursprung beschwören zu wollen, kann festgestellt werden, dass eine auf Traditionen basierende Festlichkeit umso echter und befriedigender wirkt, wenn sie innerhalb der überkommenen Grenzen stattfindet. Tanzabende außerhalb der Faschingszeit, können nicht von allen Beteiligten uneingeschränkt mitgefeiert werden. In Szegedin hatten wir einige gut besuchte Faschingsbälle, in denen die Bevölkerung und alle Lehrbereiche mitmachten. Es hieß aber anschließend, dass die Veranstalter nicht auf ihre Kosten kamen, so dass auf diesem Gebiet das Soll weit dem Haben überlegen ist.

Zusammenfassung
Vergeblich ist auf allen Ebenen unserer vorbildlich organisierten Minderheit das viele Beteuern von notwendiger Bewahrung alter Tradition, wenn ein leider nur noch auf dem Papier – im Internet – bestehender Grundsatz des Deutschforum nicht ernst genommen wird: Wir können wenig tun – tun wir das Wenige! Wir alle können die ungarndeutsche Zukunft maßgebend beeinflussen, wenn den Worten auch die Taten folgen.