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Zeitung << 1/2010 << Impressionen aus Göttingen, der Stadt von Gänseliesel


Impressionen aus Göttingen, der Stadt von Gänseliesel
Erasmus-Stipendium an der Georg-August-Universität

Autorin: Mónika Hevesi

Auch wenn die internationalen Züge berühmt sind wegen ihrer Bequemlichkeit, eine elf Stunden lange Reise bleibt eine elf Stunden lange Reise. Eine kleine Verspätung kam noch dazu, weil einige Dinge sich nicht verändern, wenn man die Grenzen von Ungarn überschreitet, und in Göttingen angekommen war ich schließlich zu müde dazu, ein Wortspiel schätzen zu können. Auch wenn der Slogan von Göttingen so treffend ist: „Willkommen in der Stadt, die Wissen schafft.“

Ankunft in Göttingen
Das nächste „Willkommen“ bekam ich von Lena, meiner Betreuerin (oder wie man es hier nennt: Gretel-Tutorin). Es war gegen zehn Uhr abends, und sie stand dort, damit sie mich abholen und zu meiner werdenden Unterkunft begleiten konnte. Ich war unsagbar dankbar. Wortwörtlich, weil ich zu dieser Zeit so erschöpft war, dass ich kaum sprechen konnte. Zumindest erklärte ich ihr das, als wir an den Palmen vor dem Bahnhof vorbeigingen. Palmen in Göttingen?! Total normal, meinte Lena. Na ja, in Niedersachsen träumt man sich nach einer Zeit ein wenig Sommer. Nicht dass die hier Lebenden nicht ab und zu sogar das kalte Wetter schätzen könnten… Aber darüber später.
Mein Wohnheim war ein altes, mit Ziegelsteinen verziertes Haus direkt am Campus. Drei Zimmer (ein ganz wenig abgegriffen, nur der Atmosphäre wegen), eigene Küche in den Appartements, eine Toilette auf dem Flur und eine Dusche im Keller für uns alle – hoch lebe die Koedukation! Sophia aus China und Kamila aus Polen, meine Mitbewohnerinnen für die fünf kommenden Erasmus-Monate, waren kurz vor mir angekommen.
Wie ich schon am Anfang meines Göttinger Aufenthalts mit nicht wenig Zufriedenheit wahrnahm, hatte ich wirklich Glück mit meiner Unterkunft. Egal, worum es ging, normalerweise war alles in einem der benachbarten Gebäude erhältlich: Vorlesungen und Seminare, Mittagessen und eine Tasse Kaffee oder eine Erasmus-Party am Abend.
Gleich an meinem ersten Tag hatte ich – wie alle bereits angekommenen Austauschstudierenden – eine Infoveranstaltung an der Uni, organisiert von unserer unermüdlichen Mentorin Christiane Seack, wo wir eine lange Liste von Aufgaben bekamen. Zum Glück gehörte dazu auch ein hübsches Informationspaket, was sich in den folgenden Tagen als ziemlich hilfreich erwies. Horst Liedtke, den Leiter des Lektorats Deutsch als Fremdsprache und Göttinger Koordinator der Erasmus-Partnerschaft mit der Szegeder Germanistik, suchten wir erst später auf. Er freute sich sehr darüber, die Szegeder Germanistikstudentinnen kennenlernen zu können, und als wir alle (Klaudia Kerekes, Zsanett Kovács und Anita Nyári) da waren, bat er uns darum, beim Organisieren einer kleinen Werbeveranstaltung für die Szegeder Uni mitzuwirken.
Den ersten Nachmittag in Göttingen verbrachte ich mit Lena und zwei anderen Mädchen: Wir streunten in dem unglaublich schönen mittelalterlichen Stadtzentrum herum. Nach einem kurzen Spaziergang fanden wir uns auf dem Marktplatz mit dem schlossähnlichen Alten Rathaus wieder. Dahinter erstreckten sich die schlanken Türme der Johanniskirche in die Höhe, und vor dem Rathaus grüßte uns Gänseliesel mit ihren immer frischen Blumen und metallnen Gänsen. Uralte Fachwerkhäuser standen überall, die doch zeitlos zu sein schienen, und unten in ihren Erdgeschossen warteten glänzende moderne Geschäfte auf ihre Kunden. (Später, als ich über das Gesehene ins Schwärmen geriet, fragte Lena zurück: „Fachwerkhäuser? Wo? Ach, stimmt, ich bin schon ganz an sie gewöhnt…“).
An den folgenden Tagen entdeckten wir auch den Campus mit den Cafés und Mensen und den riesengroßen Glaspalast, wo die Staats- und Universitätsbibliothek (kurz SUB) beheimatet ist. Die neuen Bauten der Uni sind allerdings eher modern als schön, obwohl die SUB oder der charakteristische Blaue Turm (der meiner Meinung nach wegen der Spiegelung des Himmels „blau“ ist) als echte Blickfänge gelten. Und nicht zu vergessen: Es waren überall jede Menge Fahrräder zu sehen, da die Göttinger genauso große Anhänger des Drahtesels sind wie die Szegeder. Fast jeder hatte eins, und die Gegend der Uni samt mit den naheliegenden Teilen der Innenstadt war manchmal sozusagen lebensgefährlich wegen der wilden Fahrradfahrer.

Unterhaltungsmöglichkeiten in Göttingen
Ich muss zugeben, dass ich keine echte Expertin bin, wenn es um Göttinger Partys geht. Das ist aber nicht Frau Seacks Schuld: Sie informierte alle Erasmus-Studierenden rechtzeitig neben den wichtigen offiziellen Sachen auch über die kommenden Events – Reisen und Feiern – per E-Mail. (Die letzten mitsamt dem aktuellen und äußerst praktischen „Getränk-Sparangebot“, natürlich nur der Wirtschaftlichkeit wegen.) Ihre Hilfe war übrigens auch außerhalb der Sprechstunden angeboten, da sie meistens auch an den für uns organisierten Partys teilnahm.
Feiern kann man natürlich nicht nur im Veranstaltungskeller „Vertigo“, wo auch die Erasmus-Partys veranstaltet werden. Wenn jemand keine Ideen hat, kann er sich bei seinem Gretel-Tutor oder seiner Gretel-Tutorin oder bei dem Foyer International Team erkundigen. Auch an den überall am Campus ausgehängten Postern sind immer wieder aktuelle Infos über die Unterhaltungsmöglichkeiten zu lesen.
Es gibt auch viele ganz tolle Kneipen in der Stadt, wo die Atmosphäre des Orts genauso wichtig ist wie die Getränke – wenn nicht wichtiger. Tacos mit Käse, Altbierbowle (Erdbeeren inklusive!) oder deutsche Biersorten für Schlemmer, dazu eine gute Gesellschaft: Für einen perfekten Abend finden wir alles in Göttingen.
Kulturprogramme in konventionellem Sinne fehlen auch nicht. Zum Beispiel sah ich mit meinen Göttinger Kommilitonen und Kommilitoninnen im Deutschen Theater eine denkwürdige moderne Aufführung über das Columbine-Schulmassaker – der Besuch wurde im Rahmen eines pädagogischen Seminars organisiert. Aber wenn es um Bühne geht, gibt es auch andere Alternativen wie Junges Theater oder ThOP (Unitheater). Filmabende werden am Campus regelmäßig veranstaltet, und in der Stadt kann man sowohl Kunstkinos als auch „normale“ finden. Ausstellungen werden auch regelmäßig organisiert. Zum Beispiel war eine über die ungarische Sprache von Mitte Oktober bis Mitte November 2009 in der SUB zu besichtigen. Und dank des Semestertickets hatten wir die Möglichkeit in Niedersachsen sogar umsonst zu reisen, damit auch Programme in anderen Städten leicht erreichbar waren.

Das Göttinger Studentenleben
Während des „grauen“ Alltags fühlte ich mich an der Uni echt gut: Einerseits war ich gar nicht überfordert (obwohl ich meine Kurse generell interessant und inspirierend fand), andererseits gefiel mir die ganze Atmosphäre des Göttinger Studentenlebens sehr. Hilfe und Infos waren schnell erreichbar, und ich konnte alles am Campus finden, was ich brauchte: Buchladen, UniShop und Kiosk, Kopierladen, Mensen, Cafés. Meine Lieblinge waren die letzten, die verschiedene Snacks, Tees, „eingedeutschte“ Kaffeesorten (also eher eine Art Süßigkeiten, ohne große Mengen Koffein) und Platz fürs Plaudern baten. Und alles war voll von fair hergestellten (Öko)Produkten. Ob es der Mode oder einer verantwortungsvollen Denkweise zu danken war, konnte ich nicht entscheiden. Eigentlich egal, der Trend selbst ist positiv!

Eisessen – Ein Wintergenuss
Einige Deutsche tolerieren das in Göttingen gewohnte kalte Wetter genauso schlecht wie die armen Besucher – aber die anderen! In der Stadt von Gänseliesel ist es ganz alltäglich, dass Leute auch bei minus ichweißnichtwieviel Grad seelenruhig Eiscreme naschen. Es gibt sogar Eiscremeautomaten am Campus mit der Aufschrift „Summer inside“. Ich konnte also Göttingen nicht verlassen, ohne das Eisessen beim dichten Schneefall zu probieren. Eine Freundin, die bei der großen Tat dabei war, überredete mich dazu, zusammen auch noch Schneeengelchen zu machen. Am nächsten Tag bemerkten wir überrascht, dass wir eine Art Bewegung ausgelöst haben: Unsere Engelchen hatten Geschwister bekommen. Später entdeckte ich etwas noch Seltsameres: Ein paar Studierende arbeiteten vor meinem Wohnheim mehrere Nächte lang an einem Iglu…
Es ist praktisch unmöglich mein Göttinger Stipendium in ein paar Zeilen zusammenzufassen oder nur die Vielfältigkeit der Stadt treu wiederzugeben. „Kleine Großstadt“ mit „typisch deutschen“ Fachwerkhäusern im Kern – aber mit Neubauten am Stadtrand und vielsprachigem Stimmengewirr in der Mensa, wo das Kopftuch genauso gewöhnlich ist wie goldige Locken, Studium an der namhaften Georgia Augusta am Tage, ausgelassene Partys abends, Bildungsstreik, antifaschistische Demo und Transparente, aber kleinstädtische Stille am Sonntagabend… Göttingen muss man sehen – und wenn man es einmal gesehen hat, sehnt man sich zurück.