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Zeitung << 2/2010 << Ein Jahr der Erfahrungen


Ein Jahr der Erfahrungen
Mein freiwilliges soziales Jahr

Autorin: Eszter Tápai

Ja æe lubuju. Das ist der Satz, den man sich beim Lernen einer Sprache oft als erstes merkt. Das bedeutet ’Ich liebe dich’ auf Sorbisch. Die Sorben sind eine slawische Minderheit in der Lausitz. Das ist das Gebiet, wo ich ein Jahr (2008/2009) als Freiwillige verbracht habe.

Ich lebte in einem Dorf namens Panschwitz-Kuckau, das ungefähr 50 km nordöstlich von Dresden liegt und ca. 2300 Einwohner hat. Als kleiner Ort hat er den Nachteil, dass man wenig Einkaufs-, Freizeit- und kulturelle Möglichkeiten hat. Außerdem sind die Verkehrsverbindungen schlecht. Dafür bietet er aber Ruhe, Besinnlichkeit, Zeit und Stätten zum Nachdenken, zum Beobachten. Man kann schöne Spaziergänge machen oder einfach am Ufer des Baches, der das Dorf in zwei Teile teilt, sitzen. Im Dorf befinden sich ein Zisterzienserinnenkloster und die dazu gehörige Klosterkirche. Das Kloster wurde im Jahre 1248 gegründet und ist fast das einzige Kloster in Ostdeutschland, das nie aufgelöst wurde.

Die Anfänge
Als ich im Gymnasium die zwölfte Klasse besuchte, hat unsere Klassenlehrerin einen Brief vorgelesen, in dem der Malteser Hilfsdienst nach Jugendlichen suchte, die Lust auf einen Freiwilligen-Dienst hätten. Ich habe die Möglichkeit ergriffen und bin nach einem zehntägigen Vorbereitungsseminar mit fünf anderen Engagierten in die Fremde gefahren. Da begannen meine Erfahrungen.
Im August 2008 hatten wir einen Monat lang ein Seminar, während wir andere Freiwillige aus verschiedenen Ländern kennenlernten. Unter Seminar versteht man hier Gelegenheiten, wenn sich die Freiwilligen im Zentrum der Organisation (Dresden) treffen, Erfahrungen austauschen, Exkursionen machen, Probleme, offizielle Sachen besprechen, über verschiedene Themen diskutieren und sehr viel Spaß haben. In Ungarn befasst sich mit diesem Programm der Malteser Hilfsdienst, aber die Organisation, die alles organisiert, ist die ICE (Initiative Christen für Europa).

Im Einsatz
Am ersten September sind wir zu unseren Dienststellen gefahren. Ich habe im Maria-Martha-Heim gearbeitet, das eine Einrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung ist. Zu meinen Aufgaben gehörten unter anderem die Begleitung und Betreuung der Heimbewohner_innen während des gesamten Tagesablaufes, Hilfe bei der täglichen Körperpflege und bei den einzelnen Mahlzeiten. Außerdem habe ich die Bewohner_innen zum Arzt oder zu den Therapien begleitet, wir sind fast jeden Tag spazieren gegangen und haben manchmal auch Sport getrieben. Im Heim wird sehr viel gefeiert, z.B. Geburtstag, Weihnachten, Vogelhochzeit (ein sorbisches Fest), St. Martin, Fasching, Ostern. Das ist immer schön. Die Bewohner_innen warten und freuen sich immer auf das nächste Ereignis. Die Feste werden gemeinsam vorbereitet, es wird gebastelt, gebacken und Lieder werden einstudiert.
Früher wusste ich kaum etwas über Behinderte, aber ich habe vieles gelernt. Man muss sie als “normale“ Menschen betrachten. Sie sind vielleicht anders als wir, aber auf keinen Fall schlechter oder weniger. Von den Behinderten kann man sehr viel lernen. Sie können sich freuen, aber sie brauchen dazu kein Geld, und manchmal reicht es, wenn die Sonne scheint. Sie sagen viel, obwohl sie vielleicht gar nicht sprechen können. Sie sind offen und ehrlich. Viele wissen nicht, was Zeit ist, deshalb rennen sie nicht den ganzen Tag wie andere Menschen. Natürlich gibt es schwierige Fälle, und es ist nicht immer so leicht, geduldig zu bleiben. Zu ihrem Leben gehört natürlich auch, dass sie manchmal schlechte Laune haben, weinen, sich auf den Boden schmeißen, zwicken und hauen. Das ist die Art und Weise, auf die sie sich ausdrücken können. Das ist zuerst auch eine Fremdsprache, die man nur lernen kann, wenn man die Behinderten lange beobachtet und ihnen zuhört.

Außer Dienst
Mein Leben hat aber natürlich nicht nur aus Dienst bestanden. In meiner Freizeit bin ich oft spazieren gegangen, habe Klavier gespielt, Briefe geschrieben, ferngesehen und Bücher gelesen. Ich habe das Dorf, die Umgebung und viele Leute kennengelernt. In einem anderen Dorf (Crostwitz) habe ich in einer Frauenmannschaft Fußball gespielt und wir sind zum ersten Mal in der Geschichte der Mannschaft Kreispokalsieger geworden. Ich hatte die Gelegenheit, an mehreren Polterabenden, an einer Hochzeit und an Dorffesten teilzunehmen. Ich konnte sehr viel reisen, ich war zum Beispiel in Berlin, in Dresden, in Bautzen, in München, in Ravensburg, in den Alpen und am Bodensee. Obwohl es gefährlich ist, bin ich ziemlich viel getrampt. Dadurch habe ich auch sehr viele Menschen kennen gelernt. Mit einer Frau halte ich zum Beispiel seit Oktober 2008 den Kontakt. Wir haben uns regelmäßig getroffen und wechseln jetzt Briefe. Ich bin mit einer Journalistin, mit Student_innen, mit türkischen Männern, Geschäftsmännern, mit Senior_innen, mit Arbeitslosen, mit Müttern, mit einem Flugzeugmechaniker mitgefahren. Es ist sehr interessant, welche Themen vorgekommen sind, wie die Leute denken, wohin sie gerade gefahren sind, warum sie angehalten haben, ob sie in der DDR-Zeit Urlaub in Ungarn gemacht haben. Man kann ein Land am besten durch die Menschen kennenlernen, die dort leben.

„Erst die Fremde lehrt uns, was wir an der Heimat haben.“ (Theodor Fontane)
Während des Jahres habe ich mich sehr viel mit internationalen Sachen beschäftigt. Bereits während der Seminare haben wir über solche Themen geredet und diskutiert. An diesem Projekt haben Jugendliche aus Deutschland, Polen, Russland, Rumänien/Siebenbürgen, aus der Ukraine, Ungarn und Usbekistan teilgenommen, Ich habe auch ein bisschen andere Sprachen gelernt und damals konnte ich in acht Sprachen einige Wörter sagen. Ich habe viele Erfahrungen gesammelt und vielleicht ein bisschen verstanden, wie groß und doch wie klein die Welt ist. Es gibt so viele Möglichkeiten, dass man es sich nicht vorstellen kann. Jede_r kann sich aussuchen, was sie oder ihn interessiert. Das sind heute, nach diesem Jahr, nicht nur große Wörter, sondern das ist Erfahrung. Ich war überzeugt, dass ich meine Heimat gut kenne, aber dieses Jahr hat mir das Gegenteil bewiesen: Wenn man zum Beispiel ein Bild ganz nah vor die Augen hält, erkennt man nicht, was das ist. Aber wenn man das Bild weiter weg von sich hält und beobachtet, sieht man es im Ganzen. Genauso ist es mir gegangen. Ich lebte in meiner kleinen Stadt, hatte gute Noten in Geschichte, aber ich hatte keine übersicht. Und jetzt habe ich das Ganze von außen betrachtet und Meinungen von Ausländer_innen gehört. Es wurden Fragen über Ungarn gestellt, die ich nicht wirklich beantworten konnte. Ich hatte große Sehnsucht danach, dass ich zu Hause viel reise, dass ich besser auf die politischen Ereignisse aufpasse, viel lese und viel mehr sowohl über mein Land als auch über andere Länder weiß. Ich hatte ein Jahr lang eine russische Mitbewohnerin, Tanja. Wir haben uns unter anderem über interkulturelle Sachen, Kulturen, Religionen unterhalten. Wir sind zwar unterschiedliche Persönlichkeiten, aber wir haben einander trotzdem gut verstanden, sind aufrichtige Freundinnen geworden und hatten unglaublich viel Spaß. Ich konnte ein bisschen die russische, slawische Mentalität kennen lernen, wir haben einander einige Ausdrücke beigebracht, wir haben etliche Wörter, Feste, Bräuche verglichen. Spezialitäten wurden zubereitet und Rezepte getauscht.
Und was habe ich von Deutschland nach einem Jahr mit nach Hause genommen? Neue Klamotten, Musik, Mut, neue Freundschaften, Kontakte, Selbstvertrauen, bessere Sprachkenntnisse, Liebe, Erlebnisse und außerordentlich viele Erfahrungen. Im Sommer 2008 bin ich nach Deutschland gefahren, um behinderten Menschen zu helfen. Ich kann nur hoffen, dass ich wirklich etwas helfen und geben konnte, weil ich selbst sehr viel bekommen habe. Mein aufrichtiger Lohn in diesem Jahr war der Glanz in den Augen, den ich Tag für Tag auf der Arbeit sehen konnte, oder wenn ich jemanden durch Gesang, Spiel, Spaß zum Lachen bringen konnte.
Natürlich waren die Wochentage dort auch nicht leichter als anderswo. Ich möchte kein falsches, vollkommenes Bild von diesem Jahr geben, aber insgesamt bin ich einfach glücklich, dass ich es machen konnte.