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Zeitung << 2/2010 << Der feurige Engel, die verwundete Möwe und der gekränkte Liebhaber


Der feurige Engel, die verwundete Möwe und der gekränkte Liebhaber
Ungarische Erfolge beim Armel-Opernfestival 2010

Autorinnen: Eszter Tápai (Die Möwe), Anna Lukács (Traviata)

Seit Tagen stehen drei mit Fotos bedruckte Stühle auf einem orangefarbenen Podest auf dem Dugonics Platz herum. Was soll denn das wohl sein? Es sind keine ausrangierten, unbrauchbaren alten Stühle, die irgendwann abtransportiert werden, sondern sie dienen als Werbung für das Finale des Opernfestivals, das in Szeged vom 3-17. November 2010 stattgefunden hat. Dieses Programm wurde dieses Jahr schon das dritte Mal organisiert (vgl. GeMa 2/2008, GeMa 2/2009). Das Festival wurde von Duna TV, ARTE France, ARTE Live Web und Mezzo classic & jazz tv unterstützt.

Die erste Runde hat im April 2010 in Budapest, Moskau, New York, Paris und Bergen stattgefunden. Nach der zweiten Runde wurden vierzehn Sänger und Sängerinnen ausgewählt und die Rollen für die Produktionen verteilt. Die internationale Jury besteht aus anerkannten Fachleuten. Sie zeichnen am Ende des Wettbewerbs die beste Produktion, die beste Sängerin und den besten Sänger mit einem Preis aus. Auch die Zuschauer_innen können auf der Webseite von Duna TV und ARTE Live Web ihre Stimmen für die beste Produktion abgeben. Das Ziel des Opernfestivals ist das Popularisieren der Oper, die Entdeckung neuer Werke und die Neuentdeckung alter Werke bzw. die neue Aufarbeitung von Klassikern. Dazu versuchte man zeitgemäße Technik zu verwenden und vielseitige Künstler_innen zu finden. Auf der Webseite des Festivals kann man etwas über aktuelle frühere Produktionen, über die Sänger und Sängerinnen und Regisseur_innen nachlesen. Man kann sogar eine interessante Tabelle finden, wo die Wettbewerbsrollen kategorisiert werden und zum Beispiel der höchste und der tiefste Ton angegeben werden.
Nicht nur das Singen selbst, sondern die ganze Produktion wird bewertet. Die Oper soll tendenziell einem Theaterstück ähnlich sein. Es wird erwartet, dass die Sänger und Sängerinnen gleichzeitig auch schauspielern.

„Ich bin eine Möwe“
Die Oper von Thomas Pasatieri basiert auf dem gleichnamigen und wohl bekannten Werk (Die Möwe) von Tschechow. Pasatieri ist ein zeitgenössischer amerikanischer Komponist, dessen Name mit vielen Opern, zahlreichen Liedern und auch mit einigen Filmmusiken (Die kleine Meerjungfrau, American Beauty, Der Duft der Frauen, Pretty Woman) verbunden werden kann. Ich war etwas skeptisch, was moderne Opern betrifft, aber ich muss zugeben, dass es mir im Großen und Ganzen gut gefallen hat. Die drei Akte steigerten sich klimatisch, sowohl inhaltlich als auch musikalisch. Man hatte vielleicht manchmal das Gefühl, dass das Orchester und der Sänger oder die Sängerin nicht im Einklang sind, d.h. als ob die zwei Melodien nicht so sehr zueinander passen würden wie bei einer traditionelleren Oper. Es war ein bisschen ungewöhnlich, aber auf der anderen Seite spannend, eine Oper auf Englisch zu hören und aus der Sicht einer angehenden Anglistin die ungarische Übersetzung mitzuverfolgen. Am allerbesten fand ich die instrumentale Begleitung. Das war wunderschön. Mit der Hilfe der Melodien konnte man das Leiden und die Freude der Darsteller_innen richtig mitfühlen. Die Kulisse war einfach, (man könnte wiederum anmerken: modern), aber trotzdem gut geeignet für die Repräsentation des Raumes.

La Traviata
Die zweite Aufführung, die wir uns ansehen durften, eine Produktion des Nationaltheaters Szeged, war Verdis La Traviata. Regie führte Tamás Juronics. Ein Regisseur, der zahlreiche Anerkennungen und Preise bekommen hat – zu Recht, wie sich auch in der Aufführung widerspiegelte. Wenn ich sie mit einem Wort beschreiben müsste, wäre dies: Harmonie. Der Einklang der Musik, die Choreographie und eine wahrlich zauberhafte Kulisse bot Unterhaltung auf höchstem Niveau. Doch nicht nur der Regisseur zeichnet sich durch Talent und fachliche Kompetenz aus. Auch die Sänger_innen, Maria Pakhar (Violetta), der Grammy-Preisträger Sergio Foresti (Georges Germont) und – auf den wir stolz sein dürfen – Péter Balczó (Alfredo Germont), taten alles, um ein wundervolles und berührendes Kunststück auf die Bühne zu zaubern. Die Präsentation des schauspielerischen Könnens – gemäß den Erwartungen und Ansprüchen des Festivals – war besonders dominant. Tanz, Streit und Kissenschlacht. Alle Aspekte der Liebe und des Lebens waren dynamisch dargestellt, nicht einmal bei langen Arien blieben die Darsteller_innen bewegungslos. Nichts von dem schadete dem musikalischen Niveau des Stückes, das als einziger Klassiker unter den anderen Uraufführungen auf die Bühne gebracht wurde, natürlich auch in einen modernen Rahmen gesetzt. Verdi zu Ehren sei gesagt, dass La Traviata nichts von seiner Aktualität verloren hat. Zwar scheint die Problemstellung an sich – dass Violetta Alfredo verlässt, nur weil dessen Vater sie darum bittet, mit der Hoffnung, damit die Hochzeit seiner Tochter zu retten – für die heutige Welt etwas unverständlich zu sein. So fragen die Zuschauer_innen sich doch, wenn der rote Vorhang fällt, was es nun mit der unsterblichen Liebe auf sich hat.

Preisverleihung
Den Preis für die beste Aufführung vergab die internationale Jury an das Stück The Fiery Angel, eine Produktion des Csokonai Theaters Debrecen, das in Ungarn das erste Mal aufgeführt wurde. Beste weibliche Hauptrolle ging ebenfalls an den „feurigen Engel“, an die Italienerin Christina Baggio. Bei den Männern war die Entscheidung diesmal nicht so trivial. Nach einer unerwarteten Wende änderte die Jury das Preisausschreiben. Ein erster Platz wurde nicht vergeben, dafür gab es aber zwei Zweitplatzierungen: Péter Balczó (Traviata) und Zsolt Haja (Die Möwe) durften sich den Preis teilen. Péter Balczó durften wir schon letztes Jahr in Ravels „Schäferstunde“ bewundern (vgl. „Über Kulturschock, Pornografie und künstlerische Freiheit“, GeMa 2/2009). Den Pub­likumspreis erwarb – keineswegs überraschend – La Traviata. Das diesjährige Opernfestival schloss also mit einer Reihe ungarischer Erfolge und wir dürfen stolz sein, dies miterlebt zu haben.