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Zeitung << 1/2011 << Die größte Erfindung der Menschheit
Die größte Erfindung der Menschheit
Zwei Bücher über die Wandlungen der Sprache und ihren kulturellen Gehalt
Autor: Marco Winkler
„Die Sprache ist die größte Erfindung der Menschheit – obwohl sie natürlich nie erfunden wurde“ – Diese These stellt Guy Deutscher an den Anfang seines 2005 erschienenen Buches The Unfolding of Language, the evolution of mankind’s greatest invention, das seit 2008 mit dem merkwürdigen Titel Du Jane, ich Goethe in deutscher Übersetzung vorliegt. Erfunden hat die Sprache niemand, mit menschlichem Erfindergeist ist sie gleichwohl eng verbunden. Woher kommen ihre ausgefeilten Strukturen, die uns in Sprachen begegnen und manchmal verwirren? Wie verändern sich Sprachen, und warum werden diese Veränderungen meist als Verfall, als Verschlechterung beklagt? Diesen Fragen geht Deutscher nach und zeichnet dabei ein ebenso unterhaltsames wie optimistisches Bild sprachlicher Wandlungen, das keine Gedanken an den drohenden Untergang der Sprache aufkommen lässt.
Wer wandelt die Sprache?
Als ein mustergültiges Formensystem, ein Vorbild an Vollkommenheit wurde und wird immer das Latein gepriesen. In der lateinischen Grammatik, beispielsweise in ihrem Kasussystem, ist tatsächlich ein Formenreichtum und eine Ordnung zu erkennen, die mustergültig scheint. Fast könnte man vermuten, dass dieses System von Menschen oder einer anderen intelligenten Macht geplant wurde. Aber wie ist dieses System entstanden? Wie konnte es im späten Vulgärlatein so verfallen und diesen Verfall in verschiedene Regionen Europas als Französisch, Italienisch, Katalanisch usw. weiter ertragen? Selbstverständlich wurde das lateinische Kasussystem nicht geplant oder von Grammatikkommissionen beschlossen – auch wenn diese Vorstellung amüsant scheint. Es war selbst das Produkt eines Verfalls, der Zerstörung grammatischer Strukturen. Solche „Verfallserscheinungen“ werden vom Autor jedoch nicht beklagt wie heute der Verfall des deutschen Kasussystems, namentlich das vermeintlich traurige Schicksal des Genitivs. Der Verfall sprachlicher Strukturen ist wie deren Neuschöpfung ein notwendiges Moment sprachlicher Veränderungen.
Deutscher macht drei wesentliche Motive für Sprachwandel aus: Ökonomie, Expressivität und Analogie. Die Ökonomie ist für Verkürzungen und Abkürzungen verantwortlich, ähnlich der Abkürzung eines Weges, der einen Trampelpfad auf einer Wiese hinterlässt. So verschwinden z.B. Wortendungen, und dieser nachlässige Sprachgebrauch führt zu neuen Formen. Die Erklärung der 1. Lautverschiebung vom Indogermanischen zum Germanischen, die auch im Japanischen Parallelen findet, liest sich wie ein Loblied auf die menschliche Faulheit.
Die Expressivität findet sich in den Ausschmückungen und Übertreibungen, die sprachliche Ausdrücke länger machen. Ein typisches Beispiel hierfür stellt in verschiedenen Sprachen die Negation dar. Im Deutschen wurde sie ursprünglich als einfaches ni ausgedrückt. Aber sie wuchs zu ni-eo-wiht „nicht ein Wesen“, um Aussagen größere Ausdruckskraft zu verleihen, was sich im Althochdeutschen schon wieder zu niowiht zusammengezogen hatte, das sich wiederum zu niht verkürzte und heute als nicht, manchmal aber auch nur noch als nich, erscheint.
Das dritte Motiv, die Analogie, ist ebenfalls sehr produktiv. Sie ist der Drang nach Ordnung, nach Regelhaftigkeit. Wir finden sie oft als Fehler beim Spracherwerb von Kindern oder beim Erlernen von Fremdsprachen: „ich habe getrinkt“, „er ist gespringt“ usw. Aber häufig setzen sich diese „Fehler“ durch und werden die Norm, so sagen wir heute nicht mehr „Der Hund boll“, sondern „Der Hund bellte“, und wir sagen nicht mehr „pflag“ oder „sielz“, sondern „pflegte“ und „salzte“. Auf Grund von Analogiebildung haben wir heute die regelmäßigen Formen „ich war – wir waren“ und nicht mehr die ursprünglichen „ich was – wir waren“.
Es war einmal …
Mit Hilfe dieser Motive des Sprachwandels zeichnet der Autor ein Bild der Geschichte der Sprache(n). Auf dem Weg durch diese Geschichte begegnen uns Metaphern, die den Wortschatz erweitern, im Laufe der Zeit verblassen, später tot sind und oft nur noch mit Hilfe etymologischer Wörterbücher zu erkennen sind. So lesen wir, was Metaphern mit griechischen Umzugsunternehmen zu tun haben oder warum ein Ungar im Unterschied zu einem Deutschen weiß, was ein Darmangelegenheitenministerium ist. Wir erfahren auch, wie es auf der Straße nach Fehérvár vor 1000 Jahren aussah, und wir erleben eine Diskussion auf einer fiktiven Konferenz darüber, dass die Kräfte der Zerstörung zugleich die Kräfte der Erschaffung sind: im Streit eines Befürworters dieser These mit seinen Gegnern können wir den Weg von „going to“ (gehen) zum „gonna“ (als Futurmarker) verfolgen. Auch das semitische System der abstrakten Verbstämme, die erst durch Transfixe zu finiten Formen werden, wird ausführlich vorgestellt. Was nicht zuletzt daran liegt, dass der in Israel geborene und an der Universität Manchester lehrende Autor Experte für das Akkadische ist, eine semitische Sprache, die vor über 3000 Jahren in Mesopotamien gesprochen wurde und die der Vorläufer des Babylonischen war.
Den krönenden Abschluss – aber auch das problematischste Kapitel des Buches – stellt ein Überblick über die Entwicklung der Sprache von der «Ich-Tarzan»-Ära frühester, primitiver sprachlicher Ausdrucksweisen zur heutigen Zeit dar, die an einer kleinen Mammutgeschichte verfolgt wird. Hier verlassen wir das Feld der wissenschaftlichen Argumentation und folgen dem Autor auf das Gebiet der Spekulation und der Vermutungen. Wir lesen, wie es denn gewesen sein könnte bzw. vermutlich war. Glücklicherweise setzt er uns im Kleingedruckten aber von diesen „Unzulänglichkeiten“ in Kenntnis.
The Unfolding of Language ist kein übliches Lehrbuch der Sprachgeschichte, keine Tabellensammlung über Lautverschiebungen, Abschwächungen, Assimilierungen etc. Guy Deutscher veranschaulicht an wichtigen sprachlichen Veränderungen, wie sich Sprache wandelt. Er stellt Sprache nicht als lebloses System dar, sondern als menschliches Kommunikationsmittel. Er führt uns zu alten, untergegangenen Kulturen und Sprachen, die die Grundlagen für spätere Kulturen und Sprachen – nicht zuletzt für unsere – gelegt haben. Denn auch wenn die Sprache keines „Erfinders“ oder „Aufsehers“ bedarf, sind es eben doch die sprechenden Menschen, die für Sprachwandel verantwortlich sind.
Wie sehen wir die Welt?
Im zweiten Buch Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht (im Original Through the Language Glass. How Words Colour Your World, erschienen 2010) geht es um den Zusammenhang von Sprache, Kultur und Weltsicht. Diese Thematik wurde insbesondere in Form der Sapir-Whorf-Hypothese in der Linguistik diskutiert, die in ihrem Sprachrelativismus davon ausging, dass jede Sprache ihren Sprechern eine eigene Weltsicht aufzwinge. Die Gegenposition wird vor allem in der Generativen Grammatik vertreten, für die allen Sprachen eine den Menschen angeborene, genetisch vorprogrammierte Universalgrammatik zugrunde liegt. Mit diesen und anderen Auffassungen setzt sich Guy Deutscher in seinem Buch auseinander und zeigt, dass weder der Sprachrelativismus noch die Leugnung des Einflusses unserer Muttersprache auf unser Denken richtig liegt. Statt dessen plädiert er dafür, „dass sich kulturelle Unterschiede auf tiefgreifende Weise in der Sprache widerspiegeln und […] dass unsere Muttersprache die Art und Weise, in der wir denken und die Welt wahrnehmen, beeinflussen kann“.
Sapir und Whorf nahmen beispielsweise an, dass bestimmte Indianersprachen keine Zeitausdrücke besäßen und folgerten daraus, dass ihre Sprecher keine Vorstellung von Zeit hätten. Diese Annahme stellte sich jedoch als falsch heraus. Selbstverständlich können wir in allen Sprachen alle möglichen komplexen Sachverhalte ausdrücken. Sicher wäre es problematisch, die Bedienungsanleitung für einen Geschirrspüler in eine indigene Sprache Papuas zu übersetzen, aber dies liegt an einem für diese Zwecke unzureichenden Vokabular und an fehlenden kulturellen Kenntnissen ihrer Sprecher – zwei leicht zu behebende Probleme.
Im Matses, das von einem Stamm im Amazonasgebiet gesprochen wird, finden wir ein sehr ausgefeiltes System der Verbformen: Es gibt drei Formen der Vergangenheit, die angeben, ob etwas in der jüngeren Vergangenheit (bis einen Monat), in weiter zurückliegender (etwa einen Monat bis 50 Jahre) oder in ferner Vergangenheit (mehr als 50 Jahre) passiert ist. Dazu ist auch noch am Verb zu kennzeichnen, ob etwas aus eigener direkter Erfahrung berichtet wird oder ob man es nur von jendem gehört hat. Diese Informationen werden bei einer Aussage im Englischen, Deutschen oder Ungarischen nicht notwendigerweise erwartet, können aber durch zusätzliche Angaben durchaus hinzugefügt werden. So fasst Deutscher den Unterschied zwischen verschiedenen Sprachen mit den Worten Roman Jakobsons zusammen: „Sprachen unterscheiden sich hauptsächlich durch das, was sie vermitteln müssen, und nicht durch das, was sie vermitteln können“. Diese These wird im Buch an drei Phänomenen illustriert: Assoziation, Orientierung und Farbwahrnehmung.
Was Sprachen können
Im Deutschen, Französischen und vielen anderen Sprachen haben wir ein Genussystem, das jedem Substantiv ein Genus zuweist, in anderen Sprachen (Türkisch, Indonesisch, Vietnamesisch oder Ungarisch) nicht. Das hat aber noch keinen Einfluss auf die Wahrnehmung von Geschlechtern und sagt nichts über die Gleichstellung der Geschlechter in der Gesellschaft aus, oder wie Deutscher in einem Interview in der FAZ sagte: „Man kann auch in einer Sprache, die keine Unterschiede zwischen den Geschlechtern macht, ein perfektes männliches Chauvinistenschwein sein“. Ein Unterschied liegt aber in den Assoziationen, die sich aus dem Genus verschiedener Gegenstände ergeben, da auch mit nichtbelebten Gegenständen je nach grammatischem Genus männliche oder weibliche Eigenschaften verbunden werden.
Auch das System der Orientierung ist in verschiedenen Sprachen recht unterschiedlich. Wenn SprecherInnen des Guugu Yimithirr, einer inzwischen fast ausgerotteten Aboriginesprache aus dem Nordosten Australiens, ihren westlichen Arm heben und nach Norden ausstrecken, dann würden wir auf Deutsch sagen, dass sie (nach Norden blickend) den linken Arm heben und nach vorn ausstrecken. Während für EuropäerInnen die egozentrische Orientierung selbstverständlich ist und nur in bestimmten Bereichen, beispielsweise in der Nautik, ein geographisches System genutzt wird, ist die geographische Orientierung für Guugu Yimithirr völlig normal und verlangt von ihnen einen enormen Orientierungssinn.
Den breitesten Raum nimmt im Buch jedoch die Darstellung der Farbwortsysteme und Farbwahrnehmungen ein. Daraus, dass es z.B. bei Homer überraschend wenig Farbbeschreibungen gibt, das Meer weindunkel ist, der Honig grün und der Himmel keine Farbe hat, ist nicht zu schließen, dass er oder die alten Griechen überhaupt farbenblind gewesen seien. Vielmehr hatten sie ein anderes Farbwortsystem. Unterschiede bei der Anzahl der Farbwörter – einigen Sprachen reichen schwarz, weiß und rot, bei anderen kommt grün hinzu usw. – finden wir auch in heutigen Sprachen. Experimentell konnte nachgewiesen werden, dass sich diese sprachlichen Unterschiede auch auf die Farbwahrnehmung der Sprecher auswirken.
Linguistik ist nicht nur etwas für LinguistInnen Guy Deutscher hat sich mit diesen Büchern auf sehr weite Felder begeben. So bleibt es nicht aus, dass man viele interessante Phänomene vermisst. Beispielsweise scheint mir das völlige Ausblenden sprachtypologischer Erkenntnisse den Blick für viele Entwicklungen zu verstellen, denn wie kann man einen Vergleich morphosyntaktischer Erscheinungen im Englischen, Deutschen und Türkischen ohne einen Rekurs auf die Besonderheiten flektierender und agglutinierender Sprachen verstehen? Ebenso fehlt eine Diskussion von subjekt- versus topikprominenten Sprachen oder von Ergativ- und Akkusativsprachen. Die Darstellung geht immer von flektierenden, subjektprominenten Akkusativsprachen aus. Aber vielleicht lässt uns das auf ein weiteres Buch hoffen, in dem auch das verarbeitet wird. Zu wünschen wäre es jedenfalls, denn die Leistung Deutschers liegt vor allem darin, dass er wichtige Ergebnisse der Linguistik interessant und unterhaltsam präsentiert und einem breiten Publikum zugänglich macht. So führt er die Disziplin aus dem rein akademischen Leben in das Blickfeld einer breiteren Öffentlichkeit und erschließt ihre Bedeutung als kulturwissenschaftliche Disziplin. Es wird aber auch klar, dass viele linguistische Bereiche, beispielsweise der Zusammenhang von Sprache, Kultur und Denkweise, noch zu wenig erforscht sind. Es gibt also noch viel zu entdecken, und nicht zuletzt das macht die Linguistik zu einer spannenden Beschäftigung.
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