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Zeitung << 1/2011 << Eine lebende Legende


Eine lebende Legende
Gespräch mit Professor Árpád Bernáth

Autoren: Anna Angyalka Lukács, Zoltán Tóth

Es gibt niemanden innerhalb und nur wenige außerhalb des Instituts für Germanistik in Szeged, die Herrn Bernáth nicht kennen. Wir haben 2011 ein doppeltes Jubiläum zu feiern: Den 70. Geburtstag des Professors und 10 Jahre des von ihm ins Leben gerufenen GeMa. Das war für uns Grund genug, ein Gespräch mit ihm zu führen und ein bisschen in der Vergangenheit zu wühlen.

Dieses Jahr haben Sie Ihren 70. Geburtstag gefeiert, zu dem wir Ihnen im Namen der Redaktion herzlichst gratulieren! Aus diesem Anlass fand ein Symposium statt, das nicht nur die Anerkennung Ihrer Person, sondern auch Ihrer bisherigen Arbeit gewidmet war. Was hat Sie auf diese Laufbahn geführt?
Diese Frage kann ich in zwei Schritten beantworten. Ursprünglich hat mich die Ingenieurwissenschaft interessiert, Flugzeuge und Ähnliches. Und eigentlich hängt es mit ’56 zusammen, dass ich mich immer mehr für Literatur interessiert habe. In diesen Tagen gab es gerade verschiedene Sendungen in Fernsehen und Rundfunk darüber, wie Imre Nagy und mehrere Mitkämpfer nach der Revolution hingerichtet wurden. Ich hatte zu jener Zeit das Alter erreicht, in dem man sich Ziele setzt und sich entscheidet, was man studieren soll. Wie es zum Aufstand kam, hing mit der Literatur und dem damaligen literarischen Leben zusammen. Ich habe angefangen, zeitgenössische Zeitschriften und Autoren zu lesen und habe die Diskussionen im Petõfi Klub verfolgt, wo meistens Schriftsteller, Philosophen oder Historiker gesprochen haben. Das hat mein Interesse geweckt, und ich hatte auch gesehen, wie wichtig dieses Gebiet des Wissens ist.
Literatur ist nicht nur zum Einschlafen oder wenn man Urlaub hat, um im Schatten eines Baumes zu lesen. Literatur beschäftigt sich mit ethischen Fragen. Ich habe 1957 eine Aufführung von Antigone gesehen. Wenn man weiß, wie Imre Nagy und Pál Maléter „begraben wurden“, dann sieht man, dass diese Probleme zwar immer aus einer bestimmten historischen Situation entstanden sind, die aber, solange es Menschen gibt, zurückkehren. Diese sind im wahrsten Sinne des Wortes existenzielle Fragen.
Gerade weil ich mich für diese Dinge aktiv Interesse zeigte, wurde ich daran verhindert, diesem Studium nachzugehen.Ich wollte an der ELTE ungarische Literatur und Geschichte studieren. Ich wurde zum Studium nicht zugelassen. Ich hätte nicht studieren dürfen, aber dann gab es doch ein Angebot durch familiäre Beziehungen, man könnte sagen, Korruption; wenn ich nach Szeged komme, kann ich hier studieren. Wie Radnóti, der wegen seiner jüdischen Abstammung auch nicht hätte in Budapest studieren können, aber hier schon. Es ist also nicht so einmalig in der Geschichte.
Dann kam die Erkenntnis, dass wenn man sich für Literatur interessiert, eine Sprache nicht ausreicht. Mann muss mindestens zwei kennen, um bewerten zu können, was die ungarische Literatur leistet. Keine Literatur ist abgegrenzt von den anderen. Ich war frei, eine zu wählen, weil ich noch keine Fremdsprache sprach. Eigentlich wollte ich Englisch, aber hier gab es nur Deutsch. So wurde ich schließlich Germanist.

Später wurden Sie Institutsleiter und Dekan, sind Gründungsmitglied der Gesellschaft Ungarischer Germanisten und der Ungarischen Goethe-Gesellschaft. Sie haben zahlreiche Arbeiten veröffentlicht und sind ein anerkannter Germanist. Jetzt sind Sie Doktor der Ungarischen Akademie der Wissenschaften. Worauf sind Sie am meisten stolz?
Ich lese viele Autoren, die nie ganz zufrieden mit sich waren. Davon zeugt auch Goethes Dichtung und Wahrheit. Man kann das von innen sehen und von außen. Was ich für das wichtigste halte, ist erstens, dass ich nicht aufgab, hier in Szeged eine gute Grundlage für die Germanistik zu schaffen. Warum musste man hier dafür kämpfen? Der Hintergrund ist der folgende. Im Fach Ungarisch, obwohl meine Dozenten mit meiner Leistung zufrieden waren, war die Möglichkeit, eine wissenschaftliche Laufbahn auf diesem Gebiet einschlagen zu können, aus politischen Gründen ausgeschlossen. Dann kam Professor Halász und sagte, ich soll Germanist werden, dann könnte ich hier als Assistent arbeiten. Dann kam eine politisch bedingte Wende in der Karriere von Herrn Halász. Seine Kandidatur für die Akademie wurde zurückgewiesen und dann meinte er, wenn wir nicht gebraucht werden, sollen wir auch nichts machen. „Kommen Sie, aber machen Sie nichts“ – war die Devise. Hier kommt wieder Wissen und Moral. Man kann begabt sein, muss aber auch eine ethische Haltung haben, um mit der Begabung umgehen zu können. Dieser Stillstand hielt aber nicht lange. Es kam das Mephistophelische: zerstören wir alles… Die Schüler von Halász, seine jungen Mitarbeiter, sollten die Uni verlassen.
Und das war die erste große Leistung. Zunächst zu dritt, Herr Masát, Herr Csúri und ich. Wir haben beschlossen, dass wir nicht weggehen, sondern den Kampf aufnehmen gegen unseren Lehrer, den wir allerdings sehr geehrt und geliebt haben. Das ist ein sehr komplizierter Prozess, wenn man erkennt, dass der Hochgeschätzte schwach ist, beziehungsweise sich eine Reaktion erlaubt, die für uns nicht akzeptabel war. Das ging dann so weit, dass er uns nicht mehr als seine Schüler anerkannt hat. Dieser Kampf hat mich sehr viel Kraft gekostet.

Sie sind ein angesehener Heinrich-Böll-Forscher. Wieso hat gerade dieser Autor Ihr Interesse geweckt?
Schon in meinen Studienjahren hat mich Goethe fasziniert. Neben ihm war auch das Hauptarbeitsgebiet von Herrn Halász, also Thomas Mann, von großer Bedeutung für mich. Durch Herrn Halász bekam ich auch die Möglichkeit, zeitgenössische Literatur zu lesen, da er auch zu den Professoren gehörte, die durch das Institut Internationes mit Neuerscheinungen aus der Bundesrepublik beliefert worden waren. So habe ich 1963, als Bölls Roman Ansichten eines Clowns erschien, die Möglichkeit bekommen, das Werk zu lesen. Dadurch, dass ich bei der Zusammenstellung der Bibliographie der ungarischen Rezeption von Thomas Mann mitgewirkt habe, kam ich auch zu den Büchern, die Halász aus Westdeutschland erhielt. Einmal las er mir die Erfurter Szene aus Bölls Ansichten eines Clowns vor. Diese Szene – insgesamt drei Seiten – war nicht nur komisch, sondern auch eine vernichtende Kritik der DDR. Ich las danach das ganze Buch und beschloss „darüber etwas zu schreiben”. Aus dieser Schrift wurde dann eine studentische TDK-Arbeit. Meine erste Arbeit in deutscher Sprache schickte Halász Herrn Böll über seinen Verlag Kiepenheuer & Witsch zu. Nach gut vierzig Jahren, als ich im Böll-Archiv in Köln den Band 13 der Kölner Ausgabe, den Roman Ansichten eines Clowns vorbereitete, fand ich den Brief eines Mitarbeiters von Böll, der ihm empfahl, meine Arbeit über den Roman zu lesen. Damals habe ich nur vom Ergebnis dieses Empfehlens Kenntnis genommen: Böll schrieb mir einen kurzen, aber schönen Brief, wonach ich in meiner Analyse das Wesentliche erfasst habe. Später schickte er mir regelmäßig seine Bücher und auch seine Essays in Zeitschriften. 1982 erhielt ich mit Bölls Unterstützung ein Humboldt-Stipendium, um seine Manuskripte zu studieren.

Wenn Sie einen Wunsch frei hätten und irgendetwas in der Welt verändern könnten, was wäre es?
Mein Wunsch würde sein, dass alle begabten Jugendlichen die Zuwendung bekommen, die sie verdienen. Damit meine ich, dass alle Kinder liebende Eltern haben und solche Kindergärtnerinnen, Lehrer, Dozenten, die die Fähigkeiten ihrer Schützlinge optimal fördern. Dieser Wunsch scheint einfach zu sein, ihn zu verwirklichen, ist aber eine sehr komplexe Aufgabe.