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Zeitung << 1/2011 << Maskerade der Kulturen


Maskerade der Kulturen
Ilija Trojanow: Der Weltensammler

Autorin: Anna Angyalka Lukács

Irgendwo sehnt sich jeder Mensch nach Verwandlung. Es fängt schon in jüngsten Kinderjahren an, wo kleine Kinder sich die Schuhe ihrer Mütter anziehen und sich mit rotem Lippenstift vollschmieren. Und später, wenn wir endlich erwachsen sind, ist es einfach nur der Wunsch beim Aufstehen, irgendjemand anderes zu sein. Diese Suche nach der eigenen Identität ist ein Schlüsselmoment des menschlichen Lebens. Ob man durch die Umstände, in die man hineingeboren wird, prädestiniert ist, jemand zu sein?

Der Weltensammler spielt im 19. Jahrhundert, in der Zeit, wo die letzten weißen Flecken der Landkarten gefüllt werden. Er erzählt von einem wahren „Verwandlungskünstler“. Basierend auf der Biographie des Entdeckers Richard Francis Burton wird mit vielen fiktiven Elementen ein Mann dargestellt, der immer jemand anderer und letztendlich doch niemand war.

Drei Geschichten
Drei Geschichten, drei Reisen – nach Britisch-Indien, Arabien und Ost-Afrika – werden von einer Rahmengeschichte umfasst. Diese erzählt den Tod Richard Burtons und gibt mit der letzten Ölung auch den Grundkonflikt der Geschichte. Durfte dieser Mann, den jeder und doch keiner kannte, dieses Sakrament überhaupt empfangen? Ist es nicht suspekt, dass er oft in muslimischen Gewändern herumlief und Laa-illaha-ilallah in seinem Arbeitszimmer murmelte? Ist dies überhaupt relevant, wenn „richtig zu leben das beste Gebet ist“? War er ein Muslim oder war das nur eine seiner Masken?
Die Struktur ist kompliziert. In jedem der drei Kapitel verflechten sich verschiedene Erzähl- und Zeitperspektiven. Einmal die Perspektive des Autors, einmal die der jeweiligen Erzählperson – des Dieners, des Begleiters oder des Expeditionsleiters, es wechselt zwischen der eigentlichen und der „zur Wahrheit verfälschten“ Geschichte. Die Sprünge zwischen Zeit, Raum und Perspektive machen die Erzählung dynamisch und stellen eine weitere Herausforderung an den Leser, das Puzzle zusammenzusetzen. Darüber hinaus weckt es immer sehnsüchtige Neugier, die Fortsetzung endlich zu erfahren. Trojanow setzt die Teile meisterhaft aneinander, man hofft, das Bild wäre am Ende ganz, doch bleiben viele Fragen unbeantwortet – vergleichbar mit einem Menschen, der auch nie ganz und gar erschlossen werden kann.
Oft hört man Kritik an der deutschen Sprache, sie wäre zwar optimal für Maschinenbau, aber eignet sich kaum für die Beschreibung von Wunder. Man kann ruhig behaupten: Wer sich immer so äußert, hatte Trojanows Buch nicht in der Hand. Es wimmelt nur so von poetischen Instrumenten, Metaphern, Vergleichen, Symbolen, gut überlegten Synästhesien, die beim Lesen aufblühen und den Roman in einen wuchernden Regenwald der sprachlichen Schönheit verwandeln.

Drei Reisen
Trojanow führt uns durch drei Welten, jede fokussiert sich auf bestimmte Konflikte. Die erste Reise führt durch Indien. „Manchmal rülpste die pralle Stadt. Alles roch wie von Magensäften zersetzt. (…) Am Straßenrand lag halbverdauter Schlaf, der bald zerfließen würde“. Im Mittelpunkt steht der Konflikt zwischen den Einheimischen und den Besatzern auf der einen Seite, auf der anderen die Liebe zu einer Devadasi, einer heiligen Prostituierten. Hier, in Bombay, erfährt Burton zuerst den Zauber der Verwandlung. Er lernt die einheimische Sprache, geht zu Gelehrten, benimmt und kleidet sich nach einer Weile wie ein Muslim, um die ihn umgebende Welt besser zu verstehen und leichter Einblick in sie zu erlangen.
Bei seiner zweiten Reise nach Arabien – nachdem er sein Buch über seine ersten Erlebnisse veröffentlicht hat – geht er unter dem Decknamen Sheik Abdullah auf Hadj nach Mekka. „Um ihn herum tobt Verehrung in allen Gesichtern. Vor ihm steht eine Idee, die Kaaba, eine anschaulich klare Idee, in Schwarz gehüllt, der Stoff ein Brautschleier, die goldene Verzierung ein Liebeslied.“ Da sein Werk Informationen bis ins kleinste Detail enthielt, wird er für einen britischen Spion gehalten und zieht somit die Aufmerksamkeit der türkischen Regierung auf sich, was nicht ohne Gefahren bleibt. Hier stellt sich die große Frage: Ist er nun ein Spion oder nicht? Uns wird die Problematik der Religionen vor Augen geführt. Man fragt sich, ob eine Religion für eine bestimmte Gegend geformt ist, ob man mit seinem Wohnort auch seinen Glauben anpasst.
Die letzte Reise geht nach Afrika, durch die unendliche Wüste, um den Ursprung des Nils zu finden. „Bitter ist die Zeit, denkt er, und er nimmt sich vor dem Denken abzuschwören. (…) Am Wegrand ein ausgehöhlter Baum, breit auseinandergerissene Lippen, aus denen ein ovaler Schrei dringt“. Neuerzähler ist der Führer der Expedition, Sidi Baba, ein mittlerweile alter amüsanter Mann, der mit seinen Geschichten allabendlich seine Freunde bis in die Nacht vergnügt. Hauptsächlich geht es um die Qualen dieser Reise, den Ehrgeiz der britischen Soldaten und den Unsinn hinter dem Wahn, sich alles aneignen zu müssen. „… es könne nicht schaden wenn die Seen und die Berge und die Flüsse viele Namen haben, Namen aus verschiedenen Mündern, Namen für verschiedene Ohren, Namen, die von verschiedenen Merkmalen und von verschiedenen Hoffnungen sprechen.“
Natürlich werden diese Fragmente durch größere Grundkonflikte zusammengehalten. Neben der Frage, ob man seine Identität ablegen und einfach eine andere annehmen kann, ist da noch das Problem der Eroberungen. Die Illusion der Briten, eine „höhere und bessere“ Zivilisation in die „barbarischen“ Gegenden zu bringen, der Wahn diese im Schmutz wühlenden Menschen zu erziehen, sie zu bekehren, ihnen eine Gabel in die Hand zu geben. Dieser Roman liefert den Beweis, dass jede Kultur einzigartig ist, dass jeder Brauch – möge er uns „gebildeten Europäern“ noch so primitiv oder unmenschlich vorkommen – in der gegebenen Kultur einen guten Grund hat.
2006 erhielt der Roman den Preis der Leipziger Buchmesse. So wie die Flüsse viele Namen haben, wie ein Mensch viele Gesichter hat, hat auch dieses Buch viele Seiten und jeder findet eine für sich, die dieses – man kann es nicht anders ausdrücken – Meisterwerk lesenswert macht.